Rönnau, Eva

Musik kann jede Lebensphase bereichern

Eine Teilnehmerin des Zertifikationskurses Musikgeragogik des Landesverbandes der Musikschulen in Schleswig-Holstein berichtet

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2009 , Seite 40

Die Ausbildung zur zertifizierten Musikgeragogin erstreckt sich über ein halbes Jahr und findet an sechs Wochenenden statt. Die Teilnahme an den Wochenendkursen ist Pflicht, die erlaubte Fehlzeit während des Kurses liegt bei zwei Tagen. Der umfangreiche Themenkatalog der Ausbildung enthält unter anderem eine Einführung in die demografische Entwicklung, Grundkenntnisse über demenzielle Erkrankungen oder Hörschäden, didaktische Grundlagen für den Instrumentalunterricht und das Singen mit Senioren, Bodypercussion, Sitztänze, Improvisation und Verklanglichung von Texten, Musik und Malen, Vorstellung des Orff-Instrumentariums sowie spezieller Instrumente aus der Musiktherapie wie Veeh-Harfe, Klangschalen oder Monochord, Einführung in Methoden zum Umgang mit Hochaltrigen, Demenzkranken und Sterbenden wie z. B. musikalische Biografiearbeit, Validation oder Sterbebegleitung und vieles mehr. Die Leitung liegt bei Hans Hermann Wickel (FH Münster) und Theo Hartogh (Hochschule Vechta), die Begründer des jungen Fachs Musikgeragogik.
Parallel zum Studium sollen die TeilnehmerInnen ein Praktikum zu einem selbst gewählten Thema absolvieren, das den Inhalt der schriftlichen Abschlussarbeit bedingt. Das Thema wird bis zum dritten Unterrichtsblock festgelegt, die Professoren beraten dabei. Um den Praktikumsplatz oder die Durchführung des eigenen Projekts muss man sich selbst kümmern. Die Abschlussprüfung besteht aus einer schriftlichen Arbeit und einem Einzelgespräch mit den beiden Seminarleitern, dem Kolloquium, welches sich auf die schriftliche Arbeit bezieht.
Die TeilnehmerInnen unseres Seminars waren überwiegend Musikschullehrkräfte aus ganz Deutschland, aber auch einige Personen aus sozialpädagogischen und Pflegeberufen. Wir alle haben sehr von der Ausbildung profitiert und freuten uns auf jedes Seminarwochenende. Die meisten von uns sind inzwischen musikgeragogisch tätig.
Schon der von mir nicht vollzählig aufgelistete Themenkatalog zeigt, welch weit reichendes Fachwissen hier vermittelt wird. Interessant ist die Ausbildung besonders durch zahlreiche praktische Beispiele für das Musizieren mit Senioren. Hinzu kommt der Austausch mit den anderen TeilnehmerInnen. Im Verlauf des halben Jahres kann jeder an sich selbst und den anderen beobachten, wie sich die Fähigkeiten in der musikalischen Begegnung mit älteren und kranken Menschen erweitern.
Musikgeragogik umfasst das Musizieren mit „jungen Alten“ und Hochbetagten gleichermaßen. Die Einsatzmöglichkeiten reichen vom Instrumentalunterricht für Senioren über Ensembles, Musiknachmittage in Seniorenheimen, generationsübergreifende Projekte mit Kindern und Senioren bis hin zur schwierigen, aber auch beglückenden Beschäftigung mit Demenzkranken – Musik ist der letzte Kommunikationsweg, auf dem diese noch erreichbar sind. So wird man dank des „Zauberstabs“ Musik Zeuge, wie verloren geglaubte Fähigkeiten wieder aufleben. Musik kann auch in den letzten Tagen und Stunden eines Lebens noch Hilfe und Entspannung bringen.
Die Einsatzmöglichkeiten für MusikgeragogInnen sind also weit gespannt. Und die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Teilnehmer sind wohl kaum irgendwo sonst in der Musik so unterschiedlich. Als musikalischer Leiter steht man vor einem bunten Kosmos menschlicher Erscheinungen und Gruppenstrukturen. Das erfordert hohe Flexibilität, Einfühlungsvermögen und Fantasie und ist gleichzeitig ungemein interessant.
Die Akquise bei Seniorenheimen, Pflegeinstitutionen oder im privaten Bereich erfordert Geduld, weil Musikgeragogik noch weitgehend unbekannt ist. Auch dafür werden in der Ausbildung Ratschläge und Tipps gegeben, ebenso Hinweise auf Finanzierungshilfen. Musikgeragogik berührt sich teilweise mit Musiktherapie oder dem sozialtherapeutischen Bereich. Ihr Spezifikum besteht da­rin, dass die Senioren im weitesten Sinn zu eigenem musikalischen Tun angeregt werden, sei es selbst ausübend, rezipierend oder indem verborgene Schichten der eigenen musikalischen Biografie und damit die Erinnerung an ganze Lebensbereiche wieder belebt werden.
Bei der Kontaktaufnahme zu Senioreneinrichtungen wurde von deren Seite gelegentlich der Wunsch geäußert, wir möchten den Pflegekräften, die „sowieso schon viel mit den Senioren singen“, doch einige Unterweisungen geben. Unausgesprochen stand dahinter die Meinung: „Das können wir auch selbst.“ Der Zertifikationskurs Musikgeragogik vermittelt jedoch mehr als nur Tipps, wie man Senioren mit Musik erfreuen kann. Er bietet eine professionelle Grundlage dafür, den musikalischen Sinn, der in jedem Menschen angelegt ist, zu aktivieren. Neben gewissen pflegerischen Grundkenntnissen bedarf es möglichst breit angelegter musikalischer Kenntnisse und Fantasie sowie eines einfühlsamen Interesses am Menschen.
Musik gehört seit Urzeiten zu jeder menschlichen Kultur. Sie kann jede Lebensphase bereichern. Gerade im Alter, wo Kräfte und Fähigkeiten schwinden, bietet sie Ausgleich und Trost. Musikgeragogik lehrt uns, diesen Trost spürbar zu machen.

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