Tröger, Beate

Musik kann seelischer Proviant sein

Der Komponist Helmut Oehring über die Mittlerrolle von Musik, die Bedeutung von Inklusion und die Funktion von Musik in der Gesellschaft

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 4/2013 , Seite 40

Helmut Oehring wurde 1961 in Ost-Berlin geboren. Seinen Weg zur Musik fand er auf Umwegen, denn seine Eltern waren gehörlos. Helmut Oehring hat in verschiedenen Berufen Erfahrungen gesammelt, war unter anderem Bauarbeiter und Friedhofsgärtner, ehe seine Laufbahn als Komponist begann. Heute zählt er zu den maßgeblichen zeitgenössischen Komponisten, sein OEuvre umfasst über 250 Werke. Mitte Juni hatte seine neue Oper “AscheMOND oder The Fairy Queen” an der Staatsoper im Schillertheater Berlin Premiere, im Herbst wird in Lausanne seine neue Filmmusik zu Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm “Sunrise. Song for two humans” (1927) uraufgeführt. Momentan arbeitet er an einem neuen Musiktheaterwerk: “Orfeo 14 (vol. 1)” für die Opéra Lille. 2011 erschien Helmut Oehrings Biografie “Mit anderen Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten”. Helmut  Oehring lebt mit seiner Frau, der Dramaturgin und Librettistin Stefanie Wördemann, und den beiden gemeinsamen Kindern in der Märkischen Schweiz.

Herr Oehring, in Ihrer Biografie zitieren Sie den Regisseur und Schauspieler John Cassavetes: „Sagt, was ihr seid. Nicht, was ihr gern wärt, und auch nicht, was ihr sein müsstet.“ Woher weiß man aber, wer man ist? Oder wie findet man es heraus?

Eine schwierige Frage: Woraus setzt sich Biografie zusammen? Und wann setzt das Reflektieren darüber ein? Man könnte vielleicht sagen, man ist als Mensch immer auf der Suche und verwandelt sich. Aber auf der anderen Seite gibt es ein Potenzial, das begrenzt ist, das jeder mitbekommen hat, bestimmte Fähigkeiten oder Unfähigkeiten. Eine Kenntnis davon entwickelt jeder bereits im Kindesalter. Wenn man dringend Ant­worten sucht auf Fragen wie „Was macht mich aus?“ und „Was kann ich besonders gut und wie kann ich das in meinem Leben zur Geltung bringen?“, entsteht ein Reflexionsprozess, der eine Ahnung aufkommen lässt von den Stärken und Schwächen, die in einem sind. Genauer kann ich es nicht sagen.

Eine komplizierte Einstiegsfrage, zugegeben. Die Formulierung „Sei, was du bist“ täuscht ein wenig darüber hinweg, dass man das nicht so einfach erreicht. Manches hängt von bestimmten Erfahrungen und Ausgangssituationen ab. Zu Ihrer Biografie gehört, als hörendes Kind gehörloser Eltern geboren zu sein. Mit Ihren Eltern haben Sie sich in Gebärdensprache verständigt. Wann verwenden Sie diese Sprache heute?

Ich verwende sie skurrilerweise nahezu ausschließlich in meiner Konzert- und Musiktheaterarbeit. Die Gebärdensprache, die einerseits eine ganz normale Lebenssprache, andererseits auf der Bühne eine Kunstform ist, lebt heute, abgespalten vom Biografischen, eigenständig in meiner Arbeit. Ich setze sie gezielt ein, als Raumsprache, als visuelles Zeichen und Grammatik im Raum, korrespondierend mit Klang im Raum, mit der Musik. Aber der überwiegende Teil meiner Kompositionen existiert weiterhin ohne den sichtbaren physischen Anteil der Gebärdensprache. Sie wirkt in diesen Werken eher im Verborgenen und im Subkontext.

Gibt es Dinge, die Sie in Gebärdensprache besser sagen können als in Worten oder in Musik?

Ich habe spät sprechen gelernt, kann mich mittlerweile ganz gut in der hörenden Welt verständigen und inzwischen auch in Worten halbwegs ausdrücken. Aber noch lange nicht so wie in meiner Muttersprache: In Gebärdensprache kann ich mich besonders klar ausdrücken, aber mein Gegenüber ist dann in der Regel ein Gehörloser. Mit ihm kann ich aber nicht über Musik sprechen, das zweite wichtige Kommunikationsmodell in meinem Leben. Ich werde also kaum ein Gegenüber finden, das mein Denken und Fühlen über Musik in Gebärden nachvollziehen kann…

…es sei denn, es wäre jemand mit biografischen Voraussetzungen, die den Ihrigen entsprechen.

Vielleicht. Jedenfalls ist es so, dass ich in der Gebärdensprache mit der größtmöglichen Genauigkeit Dinge kommunizieren kann, die mir sehr wichtig sind, über die ich nachdenke, träume und nachfühle.

Mich interessiert der Prozess, bei dem die Muttersprache von einer anderen Sprache, die man verwendet, überschrieben wird.

Ich habe durch die Musik gelernt, mich auch in der ge­sprochenen Sprache der Hörenden besser mitzuteilen. In der musikalischen Arbeit kann ich deckungsgleich sein mit dem, was ich formulieren möchte. Konkret geschieht das etwa, wenn ich sage: „Takt soundso wird soundso musiziert“, weil genau dort ein bestimmter Subtext mitläuft, der möglichst berührt und transformiert werden soll. Ich erlebe es aber auch im Sprechen über Musik. Die Jahre davor war ich jemand, der nicht besonders gern gesprochen hat.

Lag das auch an der Mittlerrolle, die Sie als Kind zu erfüllen hatten?

Es gibt ja auch Menschen, die nicht dieses biografische Detail mitbringen und nicht gerne sprechen (lacht). Andererseits kann ich mich erinnern, mit welcher Anstrengung es verbunden war, als Dolmetscher hin und her zu switchen zwischen der Wort- und der Gebärdensprache.

Sie haben gelernt, die Mittlerrolle zu nutzen, sich aus heiklen Situationen herauszuziehen.

Ja, von einem bestimmten Zeitpunkt an habe ich auch die Hilflosigkeiten beider Erwachsenenwelten ausgenutzt, nach dem Motto: „Wenn ihr so doof seid und mir die Kommunikation überlasst, dann mache ich das Beste für mich draus.“

Würden Sie sagen, dass sich diese Mittlerrolle in Ihrem Komponieren bemerkbar macht?

Ja. Ich vermittle jetzt zwischen anderen Welten. Ich wirke als Transformator von einer Sprache in die andere oder von einer Bedeutungsebene in die andere. Die Musik ist Erzählerin. Die Stimme. Das Zeichen.

Was möchten Sie vermitteln?

Ich habe mit der Musik eine sehr genaue Sprache kennen gelernt, die sich weder in der Wort- noch in der Gebärdenwelt zuhause fühlt. Danach hatte ich gesucht, weil ich verzweifelt und unsicher in beiden anderen Welten war. Als Kind empfand ich dieses Dazwischensein als Last, als Pubertierender als furchtbare Anstrengung und Belastung. Entscheidend für meine emotionale Entwicklung war ja, dass ich als Kind meine Eltern schützen musste vor Missverständnissen und Verletzungen – eine Loyalität, die mich sicherlich lebenslang geprägt hat. In den Sechziger- und Siebzigerjahren sah man Gehörlose in Ostdeutschland als Behinderte an, da wurde mit Integ­ration nicht klug und zukunftsorientiert umgegangen. Ich habe als Kind versucht, hämisches Lachen, abfällige Bemerkungen und jedes Genervtsein von Mitmenschen abzufedern und zu verwandeln.

Verständlich, dass Sie darunter gelitten haben, Eltern sind einem Kind ja unendlich wichtig.

Zu erleben, dass die eigenen Eltern in der Welt da draußen nicht funktionieren, anders sind als andere und die Muttersprache, gelinde formuliert, als „Affensprache“ oder „Urwaldgebaren“ bezeichnet wird, dass sie vielleicht als krank oder behindert angesehen werden, das rüttelt schon am Weltbild eines kleinen Kindes. Ich konnte das erst spät ordnen und bewerten.
Mein Vater wurde 1915 in Dresden geboren, meine Mutter 1930 in Leipzig. Beide haben den Nationalsozialismus erlebt, von klein auf gelernt, sich unauffällig zu verhalten, weil man sie sonst vielleicht weggeschafft hätte. Eine latente Gefährdung bestimmte ihren Alltag. In ihren Familien, wo alle hörend waren, waren sie das peinliche, nicht funktionierende fünfte Rad am Wagen. All das schleppten sie mit, bis ich auf die Welt kam: ihr hörender Sohn. Einerseits war es für sie das größte Glück, dass ich in die Hauptwelt passte. Andererseits wurden wir alle mit einer Spaltung konfrontiert, mit der oft wahnsinnig schwer, zeitweise unmöglich umzugehen war. Mit der Musik fand ich eine Welt, die jenseits von determinierter Sprache funktioniert, jenseits von Gebärde, die aber mit größter Kraft und Mitteilungsfähigkeit ausgestattet ist, eine Welt, die eine starke emotionale Berührungsmöglichkeit und Fähigkeit darstellt. Mit oder in ihr kann ich am besten die Geschichten erzählen, die ich erzählen möchte, sozusagen gedolmetscht und verwandelt.

Und das wäre auch ein weiteres Moment der Vermittlung?

Die Themen, die ich mir suche, die Titel und Inhalte, Geschichten, Begebenheiten, Porträts, zu denen ich Musik schreibe, sind mir wichtig. Musik ist auch wie ein Schrei. Und ab und zu muss es diesen Aufschrei geben. Klänge sind physische Vorboten eines Gewitters. Einer möglichen Revolution. Veränderung. Schall und Wahn. Als Komponist hatte ich Nerd und Freak endlich durch den Rahmen, die Bühne und diesen Kunstraum die Gelegenheit, Dinge zu tun, die ich mich im normalen Leben nie getraut hätte. Menschen zusammenzuführen, die sich in diesem normalen Leben nie begegnet wären. Normales reales Leben ist ohne Struktur, ohne Thema, ohne Funktion. Sehen Sie sich um: eine Ansammlung von Chaos und Leuten, die einen nicht mögen und die einem auch egal sind. Sie sehen komisch aus und riechen nicht gut usw. Aber Musik gibt diese Struktur und den Rahmen und sie eröffnet Möglichkeiten. Eine Ahnung von realer Utopie. Musik kann den Vorhang, der uns von einer anderen Wirklichkeit trennt, zerreißen. Fast jeder kennt diese Momente, in denen dies ge­schieht, ob beim jungen Elvis oder bei Bach, ob bei Hendrix oder Webern, Wagner, Zappa, Mahler, Monteverdi oder Lachenmann. Subversiv, nonkonform, zwischen Free-Jazz, Klassik, Moderne. Gegenwart und Zukunft.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass immer jemand mit Sinn für skurrilen Humor und poetische Satire Ihre Schritte im richtigen Moment gelenkt hat. Ich stelle mir einen Schutzengel ohne Flügel vor. Oder ist es ein Lehrer?

Das waren meistens Lehrer, aber es gab vorher noch Herrn Mürke, der einen Zooladen hatte. Der war für mich eine Vaterfigur. Ich habe als Schüler in seinem Laden gearbeitet und bin liebevoll und streng aufgenommen worden. Er hat mir beigebracht, Verantwortung zu übernehmen, Haltung zu entwickeln, mich auf meine Art durchzusetzen.

In Ihrer Biografie ist viel von Vertrauen die Rede. Wie gewinnt man als Lehrer Vertrauen?

Indem man sich nicht verstellt, nicht irgendeine Pseudoautorität ausspielt, weil man unfähig ist, mit seiner Persönlichkeit zu überzeugen. Vielleicht geht es darum, Sicherheit und Klarheit auszustrahlen. Dann wirkt Unsicherheit nicht wie Versagen. Ich glaube, das ist nicht vielen gegeben, sonst gäbe es mehr bessere Lehrer.
An meiner Schule gab es einen, der in der Lage war zu dem, worum es geht: Kinder und Jugendliche ins Leben zu begleiten. Die anderen waren unfähig dazu. Lehrer zu sein, ist eine Gabe und Last. Man sollte bei sich sein, wenn man vor eine Gruppe tritt, etwas vermitteln, das über den Lehrplan hinausgeht: Gerechtigkeit, Feinfühligkeit und Mitgefühl, Mut – danach haben Kinder und Jugendliche Sehnsucht, das wollen sie erlernen.

Ich möchte gerne auf das Thema Inklusion zu sprechen kommen, mit der eine Wertschätzung der Vielfalt und Andersartigkeit erreicht werden soll. Was halten Sie von diesem Ansatz? Wie schätzen Sie das Argument ein, die Förderung besonders Begabter käme dabei zu kurz?

Ich beobachte diese Situation gerade in der Schule, in der unsere Tochter in die zweite Klasse geht. Es gibt im Ort ein Kinderheim. Die Heimkinder werden auf die Schulklassen aufgeteilt, sie haben unterschiedliche Probleme, soziale, psychische oder physische. Vielleicht bin ich aufgrund meiner Herkunft dafür sensibilisiert, erfahre aber auch, wie schwierig es für die Lehrer ist, Gemeinsamkeit herzustellen und erleben zu lassen. Es entstehen immer wieder nicht planbare, alle Beteiligten überfordernde Situationen. Ich bemerke an unserer Tochter, wie empfindlich sie wahrnimmt, dass zwei, drei Kinder anders sind. Und ich glaube, möchte glauben, dass die Begegnung mit Menschen, die anders sind, eine Fähigkeit entwickelt oder einpflanzt, verstehen lässt, dass nicht alle gleich schnell rennen, nicht alle supergut rechnen, nicht alle gleich aussehen, aber deswegen längst nicht Doofe oder Spastis sind. Dass man bestimmte Fähigkeiten von diesen Menschen lernen oder umgekehrt Dinge, die man selbst besonders gut kann, weitergeben kann, etwa lesen, singen, rechnen oder trösten. Vielleicht lernen Menschen so auch das Teilen. Ich glaube nicht an eine Gesellschaft, die Andersseiende, -denkende oder -fühlende ausschließt aufgrund der hohen Geschwindigkeit, die sie entwickelt hat, um den „Leistungsstandort Deutschland“ möglichst voranzutreiben. In diesem Punkt glaube ich nicht an Perfektion, Dynamik, Leistung und Tempo.

Sie arbeiten immer wieder in Education-Projekten mit. Wie sind Sie dazu gekommen?

Ende der Achtzigerjahre spielte ich selbst noch sehr intensiv klassische Gitarre und hatte mit dem Komponieren angefangen. Ich komponierte hauptsächlich für die Schublade und gab Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen sieben und vierzehn mit unterschiedlichen Ansprüchen, Wünschen und Ideen Gitarrenunterricht. Es gab klassischen Unterricht, mit Noten und Haltung, und dann Stunden, wo Blues, Heavy Metal oder Volkslieder im Zentrum standen. Wichtig war, was die Kinder wollten, eingestiegen sind wir über Fragen wie „Was will ich können, berührt mich, bewegt mich?“

Wie ging es weiter?

Es gab erstmal eine Riesenlücke, in der ich mit mir selbst Education im Komponieren und anderem machen musste (lacht). Eingestiegen bin ich dann wieder über die Akademie der Künste in Berlin, über ein Projekt, das hieß „Klangwelten“. Mitglieder der Akademie gingen im Rahmen dieses Projekts an sogenannte kulturferne Standorte, um mit Kindern und Jugendlichen Kulturprojekte zu realisieren. Diese Arbeit habe ich immer wieder fortgesetzt.

Welches der Projekte ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Eines entstand im Jahr 2008 mit Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren an der Ulrich-von-Hutten-Schule in Frankfurt an der Oder. Das Symphonieorchester in Frankfurt und ein großer Laienchor wirkten mit. Wir wollten ein Thema finden, mit dem wir die Jugendlichen begeistern konnten, aus dem am Ende ein Konzert im Rahmen der Abonnementreihe des Orchesters entstehen sollte. Das Team – Freunde und Freundinnen, mit denen ich seit Jahrzehnten arbeite – und ich kamen auf die Idee, die Jugendlichen zu fragen, was Liebe, Heimat und Tod für sie bedeuten. Frankfurt an der Oder als Grenzstadt ist prädestiniert für das Projekt „Liebe, Heimat, Tod“.
Und dann ging es los: Eine Gruppe interviewte Unbekannte und Bekannte. Die zweite sollte Videos oder Fotos von ihrer Heimat machen, aber auch von den geschichtlichen Spuren und Inschriften. Die dritte Gruppe hat Texte zum Thema geschrieben, die ich dann komponiert habe und die von den Jugendlichen, dem Orchester und den Chören vorgetragen wurden. Ich hatte noch einen polnischen Kinderchor eingeladen, im Prolog kamen diese Kinder herein und sangen ein Lied mit einem polnischen Text über einen Jungen, der stirbt. Ich habe dies mit Brahms’ Chorstücken über Heimat und Liebe verflochten. All das wiederum war verwoben mit Abschnitten, in denen die Jugendlichen gemeinsam mit dem Orchester musizierten, und mit Videoscreens, die auf drei Leinwänden übertragen wurden. Dazu standen Jugendliche auf der Bühne und trugen inmitten der Musik ihre Texte vor. Es war für alle eindrucksvoll.

Wann haben Sie das Gefühl, selbst etwas zu lernen?

Nach etwa jeder zehnten Komposition mache ich einen größeren, für mich wahrnehmbaren Schritt. Vielleicht benötige ich diese Abstände, um zu spüren, jetzt bin ich wieder ein Stück weiter, in meiner Sprache und Kompositionsweise, in der Themen- und Materialbehandlung.

Welche Funktion hat Musik Ihrer Meinung nach? Kann sie die Welt verändern?

Seit den Posaunen von Jericho oder Jimi Hendrix in Woodstock, seit Elvis, Jerry Lee Lewis oder Strawinsky, Schönberg oder den Stones gibt es Momente, in denen Musik einen gesellschaftlichen Umschwung herbeiführen kann. Dann ist sie Treibstoff und Motor unzufriedener, sehnsüchtiger Seelen, kann symbolisch und praktisch für Umbruch in der Gesellschaft stehen. Denken Sie an Víctor Jara, an Wolf Biermann. Oder an Putin und seine Angst vor bestimmten Liedermachern oder Musikgruppen. In totalitären Systemen macht Musik Angst – vor dem, was ich mit dem Zerreißen des Vorhangs und dem Aufschrei meinte. Als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist, habe ich das intensiv erlebt.

Und in einer freien Gesellschaft?

Es gibt keine freie Gesellschaft. Und von Zeit zu Zeit muss auch in nicht totalitären Systemen benannt, besungen und aufgeschrien werden. Musik schützt vor Schwäche und Ungläubigkeit, vor Verletzungen des Alltags. Sie kann heilen und den Geist und Rücken stärken. Und sie kann seelischer Proviant sein. Ich kann mir mein Leben ohne bestimmte Klänge nicht vorstellen. Das wäre, als müsste ich ohne Sonne leben. Musik ist ein Kraftfeld für mein seelisches, emotionales, intellektuelles Bedürfnis, Mensch zu sein, mich auszudrücken und das, was ich erlebe, notwendig verwandelt zu sehen in unbekannte Gestalten, Sprachen, Zeichen und Muster. Songs, Opern und Musikwerke erzählen vom Hiersein auf dieser Erde und von der Gefährdung – und das kann Musik meiner Erfahrung nach besonders gut: von der Zerbrechlichkeit erzählen, von dem, was wir Liebe nennen oder Glück. Wir sind alle bedroht durch den Tod, aber auch durch Wut, Hass, absichtliche Zerstörung oder Naturkatastrophen. Die vier Jahreszeiten, Le Sacre du Printemps oder Mahlers 9. Sinfonie, Beethovens späte Streichquartette oder Schönbergs Überlebender aus Warschau thematisieren diese komplexen Zusammenhänge.
Auch ich erzähle in meiner Arbeit davon, zum Beispiel in Marie B. (Seven Chambers), meinem zweiten Streichquartett auf den Tod eines Mädchens, das sich nach ständigem Mobbing in der Schule erhängt hat. Jedesmal, wenn dieses Quartett aufgeführt wird, wird von diesem Mädchen Marie B. erzählt und die Klänge stellen auch Fragen: Was bringt ein Kind dazu, sich umzubringen? Ich muss diese Fragen nach den Bedingungen, dem Entstehen und Zerbrechen unseres Zusammenlebens stellen und teilen, mit den Musikern und dem Publikum. In Musik geht es um unsere Existenz auf der Erde. Sie ist Zeichen unserer Zerbrechlichkeit und Stärke.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2013.