Paeschke, Anja

Musik – meine Freundin

Die Bedeutung von Instrumentalunterricht für Erwachsene

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2009 , Seite 14

Wie kommen Erwachsene zum Instrumentalspiel? Was treibt sie an, im Alter noch ein Instrument zu erlernen? Ein Blick in die Biografie erwachsener Instrumental­schü­lerInnen kann Antworten auf diese Fragen geben. Doch auch die eigene Rolle als LehrerIn muss im Unterricht mit Erwachsenen neu überdacht ­werden.

Ich lernte Jutta Rodemeier im Rahmen einer Unterrichtsvertretung an einer Musikschule im südwestlichen Umland von München kennen. Über einige Stunden hatte ich ganz „normale“ Musikschulkinder unterrichtet, als eine schlanke ältere Dame den Raum betrat, sich vorstellte und ein wenig zögerlich ihre Querflöte auspackte. Nach dem für eine Musikschulpädagogin gewöhnlichen Ablauf des bisherigen Nachmittags ließ ich mir also zeigen, was sie bis dahin gespielt hatte, und wollte dann direkt in die Arbeit einsteigen. Da ich bei den Unterrichtsmaterialien, die sie mir gezeigt hatte, keine Einspielübungen fand, hielt ich den Beginn mit einer Bindeübung und der chromatischen Tonleiter für geeignet. Als ich dies formulierte, war die Reaktion deutlich: Nein, Tonleitern spielen wolle sie nicht, das sei in ihrem Alter Zeitverschwendung und dafür habe sie ja ihre Etüden. Ich ließ mich darauf ein, meinte nur, das könne ich verstehen, und wir fuhren nach ­einer kurzen Tonübung zum Einspielen (die später zu einem geliebten und unverzichtbaren Bestandteil ihres täglichen Übens werden sollte!) mit den Etüden und dem Literaturspiel fort.
Am Abend reflektierte ich die für mich ungewohnte Unterrichtssituation. Zwar hatte ich seit meiner Studienzeit Erwachsene unterrichtet, diese hatten aber zumeist noch im Berufsleben gestanden und waren entweder AnfängerInnen oder sehr weit fortgeschrittene Wiedereinsteiger oder Musikstudierende gewesen. Vom Alter her waren auch sie mir zwar teilweise voraus, nun aber stand ich einer Frau gegenüber, die mehr als doppelt so alt war wie ich und eine Reife und Lebenserfahrung ausstrahlte, gekoppelt mit einer Offenheit für das Hier und Heute, der ich bei Menschen ihres Alters selten begegnet war.
Was hatte die Stunde geprägt? Sie hatte mich gefordert, mein gewohntes Unterrichtskonzept zu verlassen bzw. spontan an die Situation anzupassen und immer wieder auszutarieren auf den weiteren Verlauf und Frau Rodemeiers Reaktionen. Später formulierte sie mir gegenüber, dass sie diese Vorgehensweise damals als sehr angenehm empfunden hatte. Sie hatte sich dadurch angenommen und ­respektiert gefühlt. Druck oder Zwang als Mittel einer Lehrerpersönlichkeit stellten für sie Elemente dar, die sie abschreckten und die bei ihrer Anwen­dung wohl dazu geführt hätten, das Instrumentalspiel wieder zu beenden. Für mich war ihr Verhalten ein Anlass, Lehrmethoden und -inhalte, die mir in Fleisch und Blut übergegangen waren, sozusagen zu transferieren. Ich wurde plötzlich auf eine andere Weise neu gefordert.
Lag das am Alter der Schülerin? Ich denke, ja und nein. Nein, weil auch die musikalische Arbeit mit sehr jungen, lernschwachen oder lernbehinderten Kindern mich bereits an diesen Punkt gebracht hatte, der mir vor Augen führte, wie wunderbar unser Beruf sein kann, wenn man das Gelernte und Verinnerlichte auf neue, ungewohnte, vielleicht auch ungewöhnliche Weise anwenden kann und wirklich als Musikpädagogin gefordert wird. Ja, weil ich das Gefühl hatte, dass zwar musikalisch-fachlich Frau Rodemeier, menschlich hingegen ich mit meinen damals knapp 30 Jahren die Schülerin war. Damit war ein Gleichgewicht, eine Gleichberechtigung hergestellt, durch die ich mich frei fühlte und das Gefühl hatte, von jeder Stunde mindes­tens so viel gelernt und profitiert zu haben, wie ich ihr hoffentlich hatte vermitteln können.
Die Stunden in den kommenden Wochen verliefen harmonisch und ich genoss die Begeis­terung Frau Rodemeiers für die Musik und die Querflöte. Jede Anregung nahm sie auf und berichtete in der darauf folgenden Stunde, wie es ihr ergangen war und was es ihr gegeben hatte. Oftmals sprudelten die Berichte aus ihr heraus und ich dachte bei mir, dass diese Frau im Geiste jünger war als die meisten meiner jugendlichen SchülerInnen. Nebenbei erfuhr ich einiges über ihr Leben, ihre Familie, die Enkel und ihre Biografie, die sie erst als Mutter heran­wachsender Kinder an das instrumentale Musizieren he­ran­geführt hatte. Die Unterrichtsvertretung neigte sich dem Ende zu und wir gingen mit den bes­ten Wünschen auseinander.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2009.