Ydefeldt, Stefan

Musik und Bewegung beim Klavierspiel

74 bedenkenswerte Übungen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2023
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 56

Nachdem Stefan Ydefeldt 2018 ein Buch über Bewegungskonzepte in der älteren deutschen Klavierpädagogik vorgelegt hat, folgt hier ein eher praktisches Material. Der Band beginnt mit Erinnerungen an den Lehrer Gunnar Hallhagen und verschiedene seiner Empfehlungen und Arbeitsweisen im Unterricht, die alle sehr vernünftig erscheinen. Dann folgen Übungen vom Autor selbst, die sich mit den gängigen Spielfiguren der Klavierliteratur beschäftigen: Positionsspiel im Fünftonraum, kleine und große Arpeggien, Tonleitern, Doppelgriffe einschließlich Oktaven, Akkorde, Tremolo, Sprünge. Dazu gibt es ein Anfangskapitel zur „Lösung des Handgelenks“ und ein weiteres Kapitel zum „Ausdehnen und Zusammenziehen der Hand“ (wobei sich die Dehnung nur zwischen 1. und 2. Finger abspielt).
Die Besonderheit der Übungen liegt nicht im unspektakulären Tonmaterial (das durch einige Beispiele aus dem Klavierrepertoire ergänzt wird), sondern in den detaillierten Bewegungsbeschreibungen. Auch wenn es am Ende des Buchs Erklärungen der grafischen Symbole und benutzten Begriffe gibt, sind die teilweise ziemlich umständlichen verbalen Beschreibungen nicht immer eindeutig. Das mag zum Teil auch an der Übersetzung liegen. Dasselbe wird manchmal mehrfach auf unterschiedliche Art beschrieben. Eine Hilfe geben kleine Videosequenzen, die man über QR-Codes abrufen kann und die die Hand des Spielers (nicht aber die gesamte Körperhaltung) jeweils von oben und von der Seite zeigen.
Generell könnte man sagen, dass es das absolut plausible Ziel ist, keine isolierten Bewegungen mit einzelnen Teilen des Spielapparats auszuführen. Die Fokussierung auf bestimmte Bewegungen enthält aber durchaus Gefahren. Es wird nicht klar gesagt, dass alle Spiel- und Anpassungsbewegungen letztlich darauf hinauslaufen sollten, den Fingern in jedem Moment die bestmögliche Position und ausreichenden Rückhalt für den Anschlag zu gewährleisten. Dann hätte man einen klaren Rahmen für den Bewegungsumfang, der im Moment nicht gegeben ist.
Auch der Bezug auf die klang­lichen Konsequenzen fehlt fast immer. „Greifende“ und „schiebende“ Fingerbewegungen haben durchaus eine unterschiedliche Wirkung, ihre Nutzung hängt von der konkreten musikalischen Situation ab. Wenn sie sich innerhalb von ein und derselben Figur abwechseln sollen, müsste man eigentlich wissen, warum man diese nicht mit einer einheitlichen Anschlagsform spielen soll, was ja möglich wäre.
Beim Lesen und Ausprobieren der Beispiele kommt einem eine Aussage von Willy Bardas in den Sinn, die er 1927 geschrieben hat: „Alle auf bestimmte Bewegungsformen abzielenden Methoden haben den Nachteil, dass sie den Schüler von der Betätigung seiner eigenen Beobachtungsgabe isolieren.“ Bardas setzt dann fort, dass schematisch nachgeahmte Bewegungsformen nicht unbedingt zu zweckmäßigen Muskelfunktionen führen.
Ähnlich scheint Ydefeldt Opfer seiner eigenen Bewegungskonzepte geworden zu sein. Wenn man davon ausgeht, dass Übungen und überhaupt Klaviertechnik zu einer zuverlässigen Tonkontrolle in allen vorkommenden musikalischen Situationen führen sollten, dann verwundert es, dass in den Videobeispielen der Klang oft nicht wirklich kont­rolliert ist; es gibt Unklarheiten in der Artikulation, bei einzelnen Tönen ist der Auslösepunkt nicht genau angespielt, sodass Unregelmäßigkeiten in Timing und Timbre entstanden sind. Wo beide Hände gleichzeitig spielen, sind sie oft nicht zusammen. Geradezu absurd und absolut ungeeignet erscheint die demonstrierte Spielweise für Tremolo.
Trotz einiger Beispiele aus dem Klavierrepertoire fehlt eine ausreichende Anbindung an musikalische Erfordernisse (metrische Gruppierungen, Betonungen, Klangbalance usw.), für die alle Spielbewegungen letztlich gewählt werden.
Linde Großmann