Orgass, Stefan

Musikalische Bildung in europäischer ­Perspektive

Entwurf einer kommunikativen Musikdidaktik, Folkwang Studien, Band 6, hg. von Stefan Orgass und Horst Weber

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim 2008
erschienen in: üben & musizieren 6/2008 , Seite 55

1996 legte Stefan Orgass für die Schulmusik seine Konzeption einer „Kommunikativen Musikdidaktik“ der musikpädagogischen Öffentlichkeit vor. Diesen Ansatz hat der Autor seither kontinuierlich weiterentwickelt. Die Essenz seiner Überlegungen ist nun als Band 6 der Folkwang Studien erschienen.
Zentrales Anliegen des Autors ist es, den „Begriff der musikalischen Bildung in europäischer Perspektive“ im Rahmen von zwölf in sich abgeschlossenen Kapiteln zu entfalten. Gleich das erste kann als der zentrale Text des Buchs gelten, in dem Orgass einen (konstruktivistisch fundierten) Begriff „Musikalische[r] Bildung aus bedeutungs-, interaktions- und situationstheoretischer Sicht“ entwickelt. Demnach vollzieht sich musikalische Bildung „in der Emergenz neuer und neuartiger (Möglichkeiten) musikbezogener Bedeutungszuweisung, die auf musikalische und musikbezogene Schemata rekurriert, sowie in der Emergenz neuer und neuartiger (Möglichkeiten) musikbezogener Zuweisung von Bedeutsamkeit(en) in (zwischenleiblichen) musikalischen und musikbezogenen Interaktionen“. Dabei gilt insbesondere die „Auseinandersetzung mit musikalischer Vielfalt“ als Kennzeichen eines genuin europäischen Umgangs mit Musik.
Andere Kapitel widmen sich weiteren zentralen Aspekten und Begriffen der Kommunikativen Musikdidaktik, etwa „Vermittlung, Perturbation und Hervorbringung aus musikpädagogischer Sicht“ oder auch „Partizipation und Relevanz“, nehmen eine Bestimmung von „Musiklernen und Musiklehren“ vor oder entwickeln Perspektiven für die Behandlung z. B. von Musikgeschichte oder musikalischer Analyse im Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen.
Die außerordentlich dichten und anspruchsvollen Ausführungen des Autors lohnen die Mühe der Auseinandersetzung: Sie stellen Unterrichtswahrheiten in Frage und bestimmen das Verhältnis innerhalb des pädagogischen Dreiecks (Lehrer, Schüler, Musik) aus konstruktivistischer Perspektive im Unterricht neu. Dabei zeigen Orgass primär schulpädagogische Überlegungen insbesondere Relevanz auch für die lern- und bildungstheoretische Grundlegung eines Instrumentalunterrichts, der über das reine Erlernen eines Instruments hinausweist.
So beruhen für Orgass „Bedeutungszuweisungen als auch Handlungen [beispielsweise beim Musizieren] auf kognitiven Schemata“, zeigt sich folglich in „musikalischen Handlungen bzw. Schemata […] musikalisches Denken bzw. artikulieren sich Kognitionen, die Beziehungen zwischen Tönen bzw. Klängen zum Gegenstand haben“. Beim Musikmachen selbst findet „,Kommunikation unter Anwesenden‘ statt, und die unterschiedlichen Ausprägungen von Kognition werden bei den Beteiligten in einem Punkt übereinstimmen, […] nämlich auf den permanenten Abgleich zwischen erwartetem und gehörtem Klang gerichtet sein.“ Eine mögliche Handlung im Unterricht kann dabei in der „Rekonstruktion der künstlerischen Entscheidungen“ bestehen, die sich als „Deutungsarbeit sinnvoll auf eine Möglichkeit des Musikmachens“ beziehen lässt.
Wiederholt widmet sich Orgass in seinem Buch freien Gruppenimprovisationen, bei denen man es „mit Bedeutungszuweisungen zum jeweils zu Hörenden und mit musikalischen Aktionen ,in Echtzeit‘ […] vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Kultur“ zu tun hat.
Die mit einem solchen Ansatz verbundenen Möglichkeiten von Musiklernen offenbaren sich, bedenkt man, dass „die Kritik des soeben Gespielten und Gehörten – etwa bei der Probenarbeit –, das Musik-Machen verändern wird und insofern die Entstehung bzw. Emergenz neuer musikalischer Schemata mitbestimmt“. Musiklernen wird folglich begriffen als ein „Zusammenhang von Tätigkeiten […], die sich als Wahrnehmung, Deutung, Orientierung und Selbsttätigkeit zu systematischen Zwecken post hoc näher bestimmen lassen“.
Es liegt auf der Hand, dass diesen Überlegungen – instrumentalpädagogisch gewendet – ein Unterricht entspricht, der bedeutungsoffen ist, Interpretationsspielräume bewusst eröffnet und sich von jedweder Form der „Meisterlehre“ distanziert. Gleichwohl steht eine instrumentalpädagogische Rezeption und weitergehende (instrumentalunterrichtspraktische) Konkretisierung von Orgass’ Gedanken noch aus, wäre aber sicherlich ein lohnenswertes Projekt für die Zukunft.
Marc Mönig