Wessel, Hauko

Musikalische Erlebnisfelder

Hochschule Osnabrück: Solmisationsgeleitete Instrumentaldidaktik am Institut für Musik

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Online-Beitrag 15

„Zur Einsicht in den geringsten Teil, ist die Übersicht über das Ganze notwendig.“[1] Am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück sind relative Solmisation und die daraus hervorgehende solmisationsgeleitete Instrumentaldidaktik sowohl im Seminar „Fachdidaktik Violine/Viola“ als auch im künstlerischen Hauptfachunterricht Violine ein wesentlicher Bestandteil des Studienangebots.[2] Mit folgender Skizze der solmisationsgeleiteten Instrumentaldidaktik soll gezeigt werden, wie Unterrichtsplanung und Durchführung sowie das häusliche Üben durch vier musikalische Erlebnisfelder organisiert werden können.

Das solmisationsgeleitete Lehren und Lernen zieht sich durch alle instrumentalen Entwicklungsstufen. Dem Unterrichten und Üben liegt ein Wiederholungsgedanke zu Grunde, der in der Abbildung durch eine sogenannte Lern8 dargestellt wird. Lernende durchlaufen die Felder in dieser Reihenfolge, um auf höherer Ebene und mit höherem Erkenntnisgrad in die Wiederholung einzusteigen.

Die Anwendung der Lern8 sorgt für die Anlage und stetige Weiterentwicklung des Inneren Ohres, also die Fähigkeit, eine Klangvorstellung zu entwickeln. Diese Art der Gehörbildung und klanglichen Repräsentation, die durch einen hohen Singanteil geprägt ist, ist konstitutiver Anteil jeder erteilten Instrumentalstunde und häuslichen Übens. So entsteht die Möglichkeit, dass Klang die Technik kontrolliert, der Redeanteil der Lehrperson sinkt, der Erlebnisanteil der Lernperson(en) steigt und Gehörbildung und Musiktheorie essenzieller Bestandteil jeder Stunde werden. Damit gewinnt das häusliche Üben an Sinnhaftigkeit und Motivation und bleibt so mit der erlebten Unterrichtsstunde auch in der Zwischenzeit verbunden.
Die im Zentrum dieses didaktischen Ansatzes stehenden Erlebnisfelder sind in ihrer zeitlichen Ausprägung sowohl im Unterricht als auch beim Üben flexibel. So können sie beispielsweise im Anfangsbereich mit Liedern im Zweitonraum oder elementaren Tonfolgen bespielt werden oder in Unter-und Mittelstufe zuerst mit einer sinnvollen Anzahl von Tönen, danach mit dem gesamten Stück und in der Oberstufe z. B. mit Vorder- oder/und Nachsatz eines Sonatenthemas, einer achttaktigen Phrase und schrittweise mit dem vollständigen Stück. Wie erfolgt nun die Auseinandersetzung mit den musikalischen Erlebnisfeldern im Unterricht und beim Üben?

Form/Dauer: Lernende sollen ein Gespür für das Stück bzw. für einzelne Stellen entwickeln. Die Lehrperson singt oder spielt ausdrucksstark eine Passage vor, Lernende hören zu oder singen mit und formen einen Kreis mit beiden Händen in die Luft oder schreiten einen Raumweg ab. Für alle Entwicklungsstufen ist diese Übung ein wesentlicher und unverzichtbarer Baustein, da sie den Körper als Basis aller Lernprozesse einbezieht. Das Innere Ohr, die musikalische Inbesitznahme und das Vertraut werden mit dem Stück werden so in jeder Altersstufe fundamental angelegt.

Metrum/Rhythmus: Im Anfangsbereich und in der Unterstufe empfiehlt sich die Verwendung von Rhythmuskarten und -silben nach Zoltán Kodály. Ab der Mittelstufe können Rhythmusdiktate des zu übenden Abschnitts die musikalische Vertrautheit weiter voranbringen. Auch hier empfiehlt es sich, das Rhythmusdiktat mit möglichst viel Ausdruck und innerer Anteilnahme vorzusprechen bzw. vorzuklatschen.

Tonbeziehung: Ausdrucksvolles Singen einzelner Abschnitte auf Solmisationssilben mit Handgesten nach John Curwen vertiefen den Gesamteindruck und stützen körperlich das Innere Ohr.

Übertragung auf das Instrument (hier exemplarisch dargestellt für Violine oder Viola): Der rechte Handrücken (symbolisiert das Griffbrett) wird vor den Körper gehalten, die linke Hand greift mit den richtigen Fingersätzen, während die Lernenden ausdrucksstark die Silben dazu singen. So wird das Gewicht der Finger auf dem Handrücken gespürt, die Fingerabstände werden visualisiert, während die Klangvorstellung weiter reift. Das Instrument wird angesetzt, der Bogen umgekehrt in der Ellbogenbeuge gestrichen, während die Finger der linken Hand greifen und dazu ausdrucksvoll gesungen wird. Technische Valeurs der rechten und linken Hand ordnen sich. Dann erst wird die Stelle auf dem Instrument gespielt. Meist erklingt die Stelle nun auf sehr erfreulichem Niveau, jetzt wird entschieden, ob die Stelle nochmal mittels der vier musikalischen Erlebnisfeldern auf höherem Erkenntnisstand durchgespielt werden soll oder eine neue Stelle geübt wird.

Die musikalischen Erlebnisfelder sorgen so für die Übersicht über das Ganze, aber auch für die Einsicht in kleinste Teile. Ihre für alle Entwicklungsstufen verständlichen und logischen Abläufe klären das Unterrichtsgeschehen und das Üben. Die schrittweise Annäherung an das Instrument unter steter zu Hilfenahme des Inneren Ohres sorgen für eine sichere musikalische Inbesitznahme des Stücks.

[1] Goethe, Johann Wolfgang: Zur Farbenlehre, Tübingen 1810, S. 385.
[2] weiterführende Informationen unter www.hs-osnabrueck.de/prof-hauko-wessel > Menüpunkt: Solmisationsgeleitete Streicher(Instrumental)Didaktik.