Dittrich, Marie-Agnes

Musikalische Formen

20 Möglichkeiten, die man kennen sollte

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2011
erschienen in: üben & musizieren 6/2011 , Seite 56

Reinhard Amon greift in seinem Lexikon der musikalischen Form das Konzept seines Lexikons der Harmonielehre auf, indem er die schier unendliche Fülle von Grundbegriffen, aber auch von detaillierten Sach- und Seitenbegriffen der Formenkunde nicht methodisch oder historisch, sondern alphabetisch anordnet. War diese Vorgehensweise im Falle der Harmonielehre zumindest gewöhnungsbedürftig, so gewinnt das Konzept bei der Formenlehre absolut an Profil.
Der Autor lässt nichts aus, was auch nur annähernd dem großen Bereich der musikalischen Formen zuzuordnen ist: von A-B-A-Form über Cha-Cha-Cha und Litanei, von Blachers variablen Metren bis hin zum Walking Bass ist nahezu alles aus allen Stilbereichen vertreten. Das hat für den Buchbenutzer den großen Vorteil, im Ernstfall mit Informationen unkompliziert und kompetent bedient zu werden. Amon erweitert sodann dieses für die Formenlehre durchaus schlüssige Buchkonzept, indem er in einer Art Anhang „wichtige Aspekte zur musikalischen Form in größere Kapitel zusammenfasst“.
Dieser Teil lässt sich wirklich mit Gewinn lesen, zumal auch Seitenbereiche der Musik wie Geometrie, Psychologie oder Theologie gestreift werden (etwa beim Stichwort „Zahl und Form“). Natürlich besteht dabei die Gefahr, dass sich der Autor gelegentlich in Details verzettelt („Exkurs zur Papier- und Buchnorm“ 525), dennoch: Eine derart gut aufgemachte Vernetzungsphilosophie der Musik mit ihren Nachbardisziplinen hat bislang gefehlt. Da nimmt man auch gerne in Kauf, dass der Autor und seine Grafiker in manchen Notenbeispielen übers Ziel hinausschießen und durch Überinformationen oder übertrieben farbliche Gestaltung gelegentlich den Informationswert erschweren. Und für die unendliche Fülle an grafischen Verlaufsdarstellungen ganzer Sätze benötigt man natürlich den kompletten Notentext.
Dennoch: Amons Lexikon der Formenlehre ist ein Muss für alle, die auf einen schnellen, anschaulichen und verständlichen Primärzugriff von Begriffen der Formenlehre angewiesen sind. Das Buch wird ganz sicher zum Standardwerk.
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt Marie-Agnes Dittrichs Büch­lein Musikalische Formen. Getreu dem Ziel der Bärenreiter-Reihe „Basiswissen“, Schülern und Studierenden eine erste Orientierung zu bieten, werden die wichtigsten Formbegriffe auf ­etwa 90 Textseiten abgehandelt. Dabei geht die Autorin ungewöhnlich vor, indem sie die grundlegenden Formen aus der Perspektive von Bogen, Kreis, Pfeil und Kaleidoskop darstellt. Das liest sich spannend und ist großenteils schlüssig, zumal Ditt­rich zugesteht, dass „fast jede Form auch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden könnte“.
Die Autorin versteht es in bewundernswerter Weise, innerhalb ihres 4-Säulen-Konzpets nahezu alle gängigen Formmodelle zu streifen, trotz des Taschenbuchformats (welches lediglich bei den sehr kleinen und durch den Schwarz-weiß-Druck wenig hilfreichen Grafiken ein Problem ist, was die Autorin veranlasst, auf die Bärenreiter-Homepage zu verweisen.) Gelegentlich verliert sich Dittrich in selbstverliebte Zahlenkolonnen, die unbedingt den kompletten Notentext erfordern und eigentlich wenig über die Musik selber aussagen, oder sie vergisst das Problem des zunehmenden Bildungsmangels ihrer Zielgruppe: In einer Randnotiz werden z. B. schöne Anmerkungen zur „Aufhebung der Zeit“ in der Matthäuspassion gemacht – wetten aber, dass viele Schüler heute nicht mehr wissen, dass die Autorin nur die von Johann Sebas­tian Bach meinen kann?
Das kann jedoch den Wert des Büchleins insgesamt überhaupt nicht schmälern, denn welches Taschenbuch schafft es schon, Einblicke in die Musik von Machaut, Haydn, Beethoven, Rossini und Messiaen zu vermitteln und zudem noch Ausflüge in die Denkart eines Arvo Pärt, Steve Reich oder Witold Lutoslawski zu wagen?
Thomas Krämer