Houben, Eva-Maria
Musikalische Praxis als Lebensform
Sinnfindung und Wirklichkeitserfahrung beim Musizieren
Wegdrücken oder anlassen, like oder don’t like – so scheint sich mittlerweile Musikkultur in weiten Teilen unserer Gesellschaft zu artikulieren. Ganz im Gegensatz dazu vermittelt schon der Titel dieser Neuerscheinung im doppelten Sinne, dass die Autorin es offenbar mit dieser Art des Umgangs mit Musik nicht so hat. Einerseits geht es statt passiven Hörens und Konsumierens um das Praktizieren von Musik, andererseits um eine Lebensform, die durch Musikmachen ganz erfüllt ist.
Dies wird uns in einer gut lesbaren Sprache zunächst in einem theoretischen Teil, dann in einem praktischen Teil vermittelt, der den Vorgang der Ausführung durch eine große Zahl von Werken ins Zentrum der Betrachtung rückt. Für das Anliegen des Buchs eignen sich weder Eggebrechts und Dahlhaus’ Positionen von einem absoluten Kunstwerk noch die strenge Selektion einer Welt der Lebenswirklichkeit gegenüber einer Gegenwelt der Kunst. Houben wendet sich konsequent u. a. angloamerikanischen Positionen eines Allan P. Merrian und John Blacking zu, nach denen der Mensch und sein Potenzial als Teil sozialer Wirklichkeit existiert und musiziert, nicht zuletzt mit und durch seine Körperlichkeit. Sinn ergibt sich nicht durch Angebundensein an ein Formgefüge (Eggebrecht), sondern ist an die Begegnung mit Menschen gebunden. Es kommt auf das Tun, die musikalische Aktivität an. „Die Beteiligten üben eine Praxis aus, in der sie Sinn erfahren und die sie wiederholen möchten.“
Die Beispiele des zweiten Teils sprechen für sich: Houben lädt die LeserInnen zu neuen, überraschenden Sichtweisen auf Spielvorgänge und Befindlichkeiten der SpielerInnen ein. Die einzelnen Kapitel mit zahlreichen Beispielen und immer neuen Aspekten sind nach der Besetzungszahl der Werke angeordnet. Die Ausführungen zu Chopins Prélude op. 28,2 a-Moll sind überschrieben mit „Zärtliche Verbindungen in verstörendem Kontext“ – als Ausdruck zarter Berührung von Tasten und Fingern beim Spiel der Melodie trotz dissonanzentfremdeter Umgebung. In Luigi Nonos …sofferte onde serene… werden die Pulsationen zu Lebenszeichen, Tasten zu Verlängerungen der Finger. Und musiziert das Orchestre Revolutionnaire et Romantique Beethovens Fünfte im Stehen, so wird das Spiel zum Kommunikationsvorgang, zu einer revolutionären Versammlung im Sinne Paul Bekkers.
Angesichts eines konsumistischen Zeitgeistes, der mitunter davon abhält, einmal selbst die Gitarre zum Klingen zu bringen, vertritt dieses Buch eine Gegenposition. Ein sehr lesenswertes Buch, das zum Nach-, Neu- und Querdenken anregt und das für das soziale Miteinander mit und durch Musik mit jeder Denkfaser seiner Autorin einsteht.
Adalbert Grote