Berg, Ivo Ignaz
Musikalische Spannung
Grundlagen und Methoden für den Instrumentalunterricht
Was ist es eigentlich, das das Musikhören so spannend machen kann? Wo hat speziell die musikalische Spannung ihren Ort, wo und wie kann man sie wahrnehmen oder gar entdecken? Und was mit ihr anfangen, sei es als Hörer, sei es als Interpret? Das cis auf der Eins im zweiten Takt von Bachs Kunst der Fuge, kaum dass der d-Moll-Dreiklang vorgestellt ist, hat es in sich; es zerbirst fast vor Spannung. Steckt die Spannung also in dem cis? Oder doch eher in dem Zusammenhang, in dem das leittönige cis einen so prominenten Stellenwert bekommt?
Oder noch anders: Ist Spannung überhaupt eine Eigenschaft der Töne und ihrer Abfolgen und nicht eigentlich dort zu Hause, wo sie als solche wahrgenommen und realisiert wird, also im Hörer?
Wohl mag man in der Syntax der Musik belegen können, welche Spannungen man beim Hören wahrnehmen und empfinden kann; als Analytiker kommt man dem Potenzial auf die Spur. Aber die tatsächlichen Spannungszustände sind dort und bei demjenigen, wo und von wem sie sozusagen körperliche Wirklichkeit werden können: beim Hörer und dementsprechend beim Musizierenden.
Ivo Ignaz Berg holt die Leserinnen und Leser mit seinen Erkundungen im Anfang der Kunst der Fuge auf spannende Weise gleich mitten ins Buch hinein und exponiert dabei die Themen: Spannung ist erstens ein Element der Syntax und Semantik der (hier: klassischen) Musik und demzufolge potenziell eines des bewussten innermusikalischen Nachvollzugs beim Hören und Musizieren. Zum zweiten gibt es eine subjektive Unmittelbarkeit der Wahrnehmung von Spannung bzw. Energie, die einerseits eine primäre Qualität zu haben scheint, weil sie dem Hören bereits vor dem Erfassen der Syntax und der zeitlichen Struktur zugrunde liegt, und die andererseits stärker aufs Ganze der Musik als eine Gestalt gerichtet ist als auf ihre Machart im Einzelnen. Und drittens kommt der Körperlichkeit sowohl des Hörens als auch des Musizierens fundamentale Bedeutung zu. Diese drei Themen gehören, wenn es um die Praxis des Hörens und des Musizierens geht, aufs Engste miteinander verknüpft.
Für die Erörterung seiner Gedanken und Perspektiven holt sich Berg jeweils einige Autoren in die besondere Nähe: zum ersten – Syntax und Spannungsverläufe der Musik – Gordon/Gruhn sowie Uhde/Wieland, zum zweiten – Energetik – Ernst Kurth und Heinrich Jacoby und zum dritten – Körperlichkeit – Rudolf Konrad, Edwin Gordon bzw. Rudolf von Laban und Wolfgang Rüdiger. Das Nachvollziehen der dargestellten und reflektierten Theorien wie auch der darauf bezogenen Methoden und Beispiele aus der Praxis des Instrumentalunterrichts lässt einem das Lesen dieser Dissertation interessant und anregend erscheinen, auch wenn die aufgeworfenen Fragen eher das Weiterdenken eröffnen, als dass sie, wie vom Autor betont, schlüssig beantwortet worden wären.
Franz Niermann