© Nico Pudimat_Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen

Irion, Susanne

Musikalische und pädagogische Expertise gegen kulturelle Verarmung

Die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen feierte ihr 50-jähriges Bestehen

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 5/2022 , Seite 52

Susanne Irion ist seit 2020 Bürgermeisterin der Stadt Trossingen. Bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen der Bundesakademie für musikalische Jungendbildung Trossingen im Juni 2022 sprach sie ein Grußwort, das für üben & musizieren verschriftlicht wurde.

„Unsere Gesellschaft kann sich eine kulturelle Verarmung nicht leisten“, so Willi Hausmann, Staatssekretär im Bundesministerium für Frauen und Jugend, zur Einweihung des dritten Bauabschnitts der Bundesakademie 1994. „Vielmehr brauchen wir Eigenschaften, wie sie gerade auch in der Musikerziehung kultiviert werden: differenzierte Wahrnehmung, selbstkritische Disziplin, Offenheit für Fremdes und Neues sowie Fingerspitzen­gefühl im Umgang mit den anderen. Wenn es etwas gibt, um der Orientierungslosigkeit und Gewaltbereitschaft von jungen Menschen zu begegnen, dann ist es die kulturelle Bildung. Dabei kommt der Musik eine ganz besondere Rolle zu.“1
Welchen Vorteil bringt es mit sich, wenn der Bau einer öffentlichen Einrichtung vier Jahre von der Grundsteinlegung bis zur Inbetriebnahme dauert? Die Antwort liegt nahe: Ein halbes Jahrhundert später hat man im Falle einer pandemischen Lage ein breites Zeitfenster zur Terminierung eines Festakts. Egal wann man feiert – zur Grundsteinlegung, im Jahr des Richtfestes oder der Inbetriebnah­me –, es passt immer!
Als Bürgermeisterin der Stadt Trossingen, mithin als Hausherrin über die städtischen Archive, sei mir ein kurzer historischer Rückblick gestattet, gibt es doch eigenwillige, fast unheimliche Parallelen zum Jahr 2022, in dem das Jubiläum anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung begangen wird.
Mitte der 1960er Jahre hatte Hans Lenz, Wirtschafts- und späterer Bundeswissenschaftsminister, die Idee, einen süddeutschen Schwerpunkt für eine Einrichtung zur Fortbildung von Chorleitern und Dirigenten von Jugendorchestern zu etablieren. Sicher hat er dabei von Anfang an an seine Heimatstadt Trossingen gedacht. Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt 1965 war der Hohner-Enkel noch immer Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Volksmusikverbände mit besten politischen Verbindungen zu Bruno Heck, Bundesfamilienminister, Bürgermeister Rudolf Maschke und Guido Waldmann, dem Direktor der damals noch jungen Trossinger Musikhochschule. Das Quartett machte sich auf, um Finanzmittel in Höhe von 2,95 Millionen D-Mark für Bau und Betrieb ihrer Vision einzuwerben. Das ist ihnen gelungen.
Bereits vier Jahre später, im Jahr 1969, erfolgte die Grundsteinlegung – mitten im Kalten Krieg und unter den Vorzeichen eines schwelenden Ost-West-Konflikts. Der Anfang der 1970er Jahre war gekennzeichnet von einer entfesselten Lohn-Preis-Spirale, von einer Inflation, die kaum unter Kontrolle zu bekommen war und an deren Ende die erste Energiekrise der Geschichte stand. Das damalige weltpolitische Sternbild warf auch seinen Schatten auf dieses Projekt. Die Bauarbeiten stockten, weil es Lieferengpässe gab und wegen der hohen Inflationsrate 1,8 Millionen D-Mark nachbewilligt werden mussten.
Die Eröffnung der Bundesakademie 1973 erfolgte in einer Zeit, in der Menschen durchaus auch existenzielle Sorgen und Nöte, ganz ähnlich wie heute, verspürten. Das wusste auch Hans-Walter Berg, der 2021 verstorbene Gründungsdirektor, der das 1998 gefeierte 25-Jahr-Jubiläum der Bundesakademie zum Anlass nahm, die Ziele präzise zu benennen, die mit den Trossinger Weiterbildungsangeboten verbunden waren und heute durchaus wieder in der Diskussion um die Qualifizierung von Musiklehrkräften an Relevanz gewinnen könnten:
„– Erwerb einer zusätzlichen Berufsqualifika­tion in einem zweiten Unterrichtsfach an Musikschulen. Die Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass die Ausbildung an einer Musikhochschule vielfach nur zur Lehrbefähigung in einem Unterrichtsfach an der Musikschule führt.
– Ergänzung einer unvollständigen Berufsausbildung als Musikpädagoge. Musikerzieherisch Tätige erwerben auf dem zweiten Bildungsweg in Trossingen einen berufsqualifizierenden Abschluss.
– Ergänzung einer fehlenden, musikpädagogischen Komponente z. B. für Kirchen-, Militär- und Orchestermusiker.
– Qualifikation zur Leitung von Orchestern und Chören für nebenberufliche Mitarbeiter in einem Musikverein oder einer Chorvereinigung.“2
Das Erfolgsrezept der Bundesakademie war damals das gleiche wie heute: Es war und ist die musikalische und pädagogische Exper­tise, politische Schützenhilfe zur Mittelgewinnung und Lobbyarbeit und nicht zuletzt eine enge Verbindung zur Stadt. Dies war bei den Gründervätern so und spiegelt sich auch heute in der Arbeit der Bundesakademie und ihrer Gremien wider. Für die Stadt Trossingen sind die knapp 13000 Übernachtungsgäste pro Jahr und die 4500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Lehrgängen und Symposien ein echter Gewinn. Wir sind dankbar für die hervorragende Arbeit der hauptamtlich Beschäftigten und die vielen ehrenamtlichen Kräfte, die mit ihrer Expertise und ihrem Einsatz in ihrem Wirkungskreis jeden Tag an dieser Erfolgsgeschichte weiterschreiben. Und so schließe ich mit dem Eingangszitat von Willi Hausmann, aus dem auch für die Zukunft so viel Zuversicht spricht: „Unsere Gesellschaft kann sich eine kulturelle Verarmung nicht leisten.“

1 Willi Hausmann, zitiert nach Hans-Walter Berg: „25 Jahre Bundesakademie Trossingen“, in: Trossinger Jahrbuch, hg. v. Martin Häffner, Trossingen 1995, S. 110-113, hier: S. 110.
2 Hans-Walter Berg, ebd., S. 111 f.

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