Lehmann, Andreas C.

Musikalische Wunderkinder

Stand der Forschung zu einer seltenen Spezies

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2013 , Seite 06

Dass das Thema Begabung immer wieder ein “reizendes” Thema ist, liegt vermutlich daran, dass unsere klassische Musikkultur immer noch stark aus dem 18. und 19. Jahrhundert lebt und wir im Erklären von individuellen Leistungsunterschieden gern in Ermangelung besserer Erklärungen auf angeborene Dispositionen spekulieren statt auf pädagogisch vermittelte Entfaltungs­möglichkeiten des Schülers. Dieser Beitrag referiert neuere Ergebnisse zur musikalischen Hoch­begabung, erläutert Grundsätzliches zur Prävalenz von Hochbegabung und möchte einige Anregungen zum Umgang mit speziellen Begabungen geben.

Kinder, die bereits in jungen Jahren Unglaubliches leisten, haben die Menschen vermutlich von jeher fasziniert, egal ob sie in der Musik, im Sport, in der Wissenschaft oder anderswo auftauchten. In der historischen Folge der Begabungskonzepte2 wurde zunächst das „Göttliche“ an diesen Personen herausgehoben, ihre gottgegebenen „himm­lischen Talente“ bzw. ihre „Auserwähltheit“. Seit der Renaissance dann wurde die individuelle Besonderheit betont, bei der sich hohe kreative Leistung gern auch mit negativen Seiten verband: so das „Genie“, das – wie Beethoven – ein schwieriger Zeitgenosse war oder – wie Schubert – leider zu früh starb. Diese metaphysischen Aspekte sind beliebte Stoffe der Musikgeschichtsschreibung. Etwas weniger märchenhaft wirkt dagegen der neuere empirische Ansatz, der sich mit spezifischen Trainingsmethoden befasst, der Interaktion von genetischen Anlagen und ihrer Ausbildung durch die Umwelt nachspürt, musikpädagogische Konzeptionen gegeneinander abwägt oder Unterschiede in kulturellen Kontexten erforscht.
Wie zu Mozarts Zeiten aber werden Wunderkinder heute noch herumgezeigt und ausgestellt. Der Exhibitionismus des Umfelds einiger Wunderkinder zeigt sich dann auch in den unzähligen Videos auf Internetplattformen wie YouTube. Hier werden die (oft gar nicht so spektakulären!) Frühreifen präsentiert. Man muss dafür nur die Begriffe „prodigious“ oder „prodigy“ (oder „Wunderkind“) und den Namen eines Musikinstruments eingeben. Zum Beispiel bringt „prodigy trumpet“ als Ergebnis Natalie Dungey zutage, ein Mädchen, das mit zehn Jahren bereits bekannt war und heute mit renommierten Orchestern konzertiert. Für jedes Instrument sowie Gesang lassen sich herausragende Vertreter finden. Das macht es einfach, einen ersten Überblick über das obere Leistungsspektrum – oder was dafür gehalten wird – zu erhalten.
Wunderkinder sind entwicklungsgeschichtlich wohl erst das Ergebnis von evolutionären Prozessen vor rund 10000 Jahren, als das ­regelgebundene Wissen der Menschheit begann, in Menge und Komplexität anzuwachsen, und die kulturelle Evolution sich beschleunigte. Das Interesse an musikalischen Wunderkindern ist Moden unterworfen. So sind Geschichten von Wunderkindern seit dem 16. Jahrhundert überliefert und wurden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend populär. Im 19. Jahrhundert dann gab es einen regelrechten Boom und die Kinder reisten in Europa umher und erstaunten ihr Publikum.3 In die frühen 1820er Jahre (siehe Abb. 1) fallen auch die „Entdeckungen“ von Franz Liszt, Clara Schumann und Frederic Chopin. Zwanzig Jahre später kann man eine erneute Welle von Wunderkindern erkennen. Leider existierte damals YouTube noch nicht, sonst würden wir seither vermutlich einen erheblichen Leistungsanstieg beobachten.

Kinder, die bereits in jungen Jahren Unglaubliches leisten, haben die Menschen vermutlich von jeher fasziniert.

Seit der Zeit des Prototyps aller musikalischen Wunderkinder, Wolfgang Amadeus Mozart, gibt es wissenschaftliche Berichte über sie. Der britische Lord Daines Barrington hat beispielsweise den achtjährigen Mozart im Rahmen einer Londonreise untersucht, indem er ihm Aufgaben stellte. Es gibt weitere Dokumentationen, darunter zum spanischen Komponisten, Pianisten und Violinisten Pepito Arriola (untersucht von Carl Stumpf 1909) und zum Pianisten und Komponisten Ervin Nyíregyházi (beschrieben von Géza Révész 1916). In letzter Zeit haben sich Gary McPherson mit der Pianistin Tiffany Poon (jetzt 16 Jahre alt) befasst4 und Franziska Olbertz mit drei nicht näher genannten Wunderkindern.5

1 Der vorliegende Artikel basiert auf dem englischsprachigen Artikel von Gary E. McPherson/Andreas C. Lehmann: „Exceptional musical abilities – musical prodigies“, in: Gary E. McPherson/Graham Welch (Hg.): ­Oxford Handbook of Music Education, Oxford 2012, S. 31-50. Ein umfassendes wissenschaftliches Werk mit mehr als 1500 Seiten zum Thema Begabung, heraus­gegeben von Larisa Shavinina, ist 2009 unter dem Titel International Handbook of Giftedness erschienen.
2 Heidrun Stöger: „The history of giftedness research“, in: Larisa V. Shavinina (Hg.): International Handbook of Giftedness, S. 17-38, New York 2009.
3 Reinhard Kopiez: „The musical child prodigy (wunderkind) in music history: A historiometric analysis“, in: ­Irène Deliège/Jane W. Davidson (Hg.): Music and the mind, Oxford 2011, S. 225-236.
4 Gary E. McPherson: „Diary of a child prodigy musician“, in: Aaron Williamon/Daniela Coimbra (Hg.): Proceedings of the International Symposium on Performance Science 2007, Porto 2007, S. 213-218.
5 Franziska Olbertz: Musikalische Hochbegabung. ­Frühe Erscheinungsformen und Einflussfaktoren anhand von drei Fallstudien, Münster 2009.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2013.