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Thalheimer, Peter

Musikalischen Ausdruck üben?

Über die Parameter des musikalischen Ausdrucks und das Üben subtiler Unterschiede

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 16

Der Begriff „musikalischer Ausdruck“ umfasst in der traditionellen Musik zwei Ebenen: Die intendierte Wirkung, die der Komponist seinem Werk durch charakteristische Melodik, Harmonik und Form mit­gegeben hat, und den spezifischen Ausdruck, der bei der Wiedergabe eines Werks durch die Ausführenden erreicht wird. Im Folgenden geht es um die zweite Ebene.

Wodurch unterscheidet sich eine musikalische Aufführung, die auf uns ausdrucksvoll und abwechslungsreich wirkt, von einer, die wir als uninspiriert, langweilig und schematisch empfinden? Der Unterschied liegt in kleinen, nicht notierten und schwer notierbaren Abweichungen von der „Norm“ des notierten Notentextes, und zwar in Bezug auf alle Parameter der Musik.1 In ähnlicher Weise unterscheiden sich die Wiedergaben des gleichen Musikstücks durch verschiedene Interpretinnen und Interpreten. Auch die Wiederholungen eines Stücks durch den gleichen Spieler an verschiedenen Tagen und in verschiedener Umgebung weichen in dieser Weise voneinander ab.
Solche Abweichungen entstehen durch das Zusammenwirken von bewusst-rationalem und unbewusst-emotional-ganzheitlichem Gestalten. In das Klangergebnis fließen gleichermaßen rationale Entscheidungen (Wissen über das Stück, musikgeschichtliche Einordnung, Ana­lyse, Stilkunde, Aufführungspraxis u. Ä.) und unbewusste Elemente ein (persönliche Erlebnis- und Gedächtniswelt, Prägungen durch Hörerfahrungen und Unterricht u. Ä.). Allerdings besteht dabei die Wahrscheinlichkeit, dass unsere interpretatorische Ästhetik dominant beeinflusst ist von dem, was wir aufgrund unserer Hörerfahrung schon kennen. Zusätzlich könnte das „Unerhörte“ einfließen, z. B. die Stilistik einer Epoche oder die Ästhetik des Komponisten.

Parameter des Ausdrucks

Dieser Gedankengang, der sich auf das gesamte konventionelle Musikrepertoire der Zeit vor Igor Strawinsky bezieht,2 findet sich u. a. bei dem Heidelberger Musikwissenschaftler Helmut Haack (1931-2002). Er hat sich intensiv mit der Theorie der musikalischen Aufführung und der Aufführungspraxis des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt. Seine Erkenntnisse stehen im Gegensatz zu den Vorstellungen aus der Zeit um 1900, in denen die musikalische Ausdrucksfähigkeit meist als rein emotional-künstlerisches Phänomen gesehen wurde, das sich rationalen Einflüssen entzieht. Dieser Tradition entsprechend wird auch heute noch gelegentlich rein intuitiv über Interpretationen und den Ausdruck von Aufführungen geurteilt und damit der Existenz objektiver Kriterien widersprochen.
Leider hat Helmut Haack zu seinen Lebzeiten viele seiner Erkenntnisse nicht schriftlich veröffentlicht. Er hat sie jedoch in seinen Kursen weitergegeben und erläutert. So entstand 1973 ein erster Entwurf einer Tabelle „Parameter des musikalischen Ausdrucks“, ausgerichtet auf die Möglichkeiten von Singstimme und Klavier. In Zusammenarbeit mit dem Verfasser dieses Beitrags wurden auch die Möglichkeiten der Blas- und Streichinstrumente sowie die Kategorie Klangfarbe aufgenommen.

1 Hugo Riemann definiert in seinem Musik-Lexikon, Leipzig 61905, S. 65: „Ausdruck (ital. Espressione, franz. Expression) nennt man die feinere Nuancierung im Vortrage musikalischer Kunstwerke, welche die Notenschrift nicht im einzelnen auszudrücken vermag, d. h. alle die kleinen Verlangsamungen und Beschleunigungen, sowie die ­dynamischen Schattierungen, Akzentuationen und verschiedenartigen Tonfärbungen durch die Art des Anschlags (Klavier), Strichs (Violine usw.), Ansatzes (Blasinstrumente, Singstimme) usw., welche in ihrer Gesamtheit als ausdrucksvoller Vortrag bezeichnet werden. Wollte der Komponist alle die kleinen Akzente mit ^ < sf usw. bezeichnen, die beim kunstgerechten Vortrag eines Werkes unerläßlich sind, so würde er die Notenschrift überladen; zugleich würde aber auch der ausführende Künstler durch die Lektüre der vielen Zeichen über Gebühr belastet und in der freien Entfaltung lebendigen Vortrages behindert werden.“
2 Strawinsky erwartete als erster für seine Werke ausdrücklich eine „Wiedergabe statt Interpretation“ ohne ausdrucksvolle Nuancen, vgl. Strawinsky, Igor: Erinnerungen; Berlin 1937, S. 97.

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