Arendt, Gerd

Musikalisches Hineinfinden in den Alltag

Musikkindergärten in Deutschland: Pädagogik im Aufbruch

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2012 , Seite 50

Ein Kindergarten, der künftige Maestros hervorbringt? Eine musikalische Tagespflege, in der man bereits Säuglinge in Sachen Musik fördert? Ein renommiertes Orchester, das regelmäßig gemeinsam mit kleinen Kindern konzertiert und gleichzeitig ein (musik-)pädagogisches Bildungs­programm entwickelt hat? Wer die unter dem eher unscharfen Begriff “Musikkindergarten” gebündelten Institutionen besucht, stellt fest: Es tut sich etwas in puncto Kita und Musik.

Offenbar hat man aus Fehlern gelernt. War etwa beim Klassenmusizieren trotz jahrelanger Unterrichtspraxis noch bis vor Kurzem ein eklatantes Manko in Bezug auf didaktisches Material wie auch theoretischen Überbau zu konstatieren, hat man bei den Musikkindergärten von Anfang an begonnen, ganzheitlich zu denken. Die Modelle sind jedoch höchst unterschiedlich. „Die Musikkindergärten müssen einen Spagat schaffen. Einerseits fordern immer alle, Konzepte müssten her; sind diese aber da, ängstigen sich schon wieder viele, ob denn die jeweilige Pädagogik auch genügend tauglich oder individuell sei“, analysiert der Verhaltensforscher Alfred Gebert die Situation.
Und in der Tat existiert es (noch) nicht: das Modell, nach dem sich alle Musikkindergärten ausrichteten. Vielmehr erlebt die Bundesrepublik momentan eine Vielzahl didaktischer Neukonzeptionen und Strömungen in Bezug auf Musik und Kleinkinder. Drei Beispiele aus unterschiedlichen Städten.

Berlin

Die Gitarristin Vivian Hanjohr konzertiert seit 1990 regelmäßig mit der Berliner Staats­kapelle und ist in ihrem beruflichen Alltag primär auf große Bühnenwerke wie Mahlers Siebte abonniert. Die Künstlerin eilt zu einem der wöchentlichen Auftritte von MusikerInnen der Staatskapelle im Musikkindergarten Berlin, einer von Daniel Barenboim im Jahr 2005 gegründeten Institution. Diese versteht sich prinzipiell als „ganz normaler Kindergartenbetrieb“, verfährt aber insbesondere aufgrund der Zusammenarbeit mit der Berliner Staatsoper nach einem eigenen, ganzheit­lichen Bildungskonzept („Erziehung durch Musik“). Pädagogisch leitend ist dabei der Gedanke, dass man sich durch den Umgang mit Musik weitere Lebenswelten erschließen kann.
Vivian Hanjohr hat eine für Kinder program­matisch durchaus anspruchsvolle Mischung vorbereitet – von Bizets Carmen bis hin zum Zauberer von Oz: „Ein bisschen angespannt bin ich schon“, sagt sie, „plötzlich hinterfragt man das alles und überlegt, wie die Kinder wohl an manchen Stellen reagieren.“ Die Gitarristin kommuniziert deswegen mit den Kindern nicht nur über die Musik selbst, sondern zusätzlich über erklärende Gespräche, historische Exkurse und sogar pantomimische Theatereinlagen zum Mitmachen – etwa, wenn die Kinder darum bitten, mal eben eine „Vogelscheuche“ darzustellen, weil ihnen das Wort nicht geläufig ist. Es geht eben mitnichten um eine „Instrumenten-Vorführstunde“, vielmehr sind Austausch mit dem und über das Unbekannte das Ziel.
„Eine Kita ist immer ein Prozess“, sagt Leonore Wüstenberg, Leiterin des Musikkindergartens Berlin. „Es geht um ein musikalisches Hineinfinden in den Alltag.“ Gerade erst haben sich Erzieherinnen und Kinder Gaetano Donizettis Liebestrank vielschichtig genähert. „Wir fragen uns, was wird da außer der Musik noch angesprochen, zum Beispiel Mathematik, Naturwissenschaften oder Sprache.“ Und so werden – angelehnt an ein selbst entwickeltes didaktisches Konzept von verschiedenen Bildungsinhalten, welche mit Musik und thematischen Bezügen eines Stücks korrespondieren könnten – in Gruppen Liebestränke in diversen Farben gebraut, Facetten der Liebe diskutiert, Kulissen gebaut oder sogar eine Dulcamara-Arie auf deutsch gesungen. Ein „multipler Kompetenzerwerb mittels Bildung durch Musik“, so der formulierte Anspruch. Man nimmt sich Zeit für jedes einzelne Projekt, ein Maximum an Vertiefung soll garantiert werden.
„Ich hätte nie gedacht, dass kleine Kinder auf Donizetti derart anspringen“, staunt Wüs­tenberg. Dabei ist die pädagogische Arbeit durchaus leistungsorientiert, sogar gemeinsame Konzerte mit der Berliner Staatskapelle stehen auf dem Programm – vielleicht auch ein Erklärungsansatz dafür, warum es dem Besucher dieser Institution widerfahren kann, dass er von einem Stöckchen wedelnden Dreijährigen mit den Worten „Ich bin hier der Herr Barenboim“ begrüßt wird.
Besondere Aufnahmekriterien für den Berliner Musikkindergarten gibt es keine, auch Zusatz-Beiträge werden nicht erhoben. Die vorhandenen 64 Plätze sind jedoch äußerst begehrt, mehrjährige Wartezeiten einzukalkulieren.

Leichlingen

Barbara Lieske leitet seit einiger Zeit ­eine musikalische Tagespflege für Kinder zwischen sieben Monaten und vier Jahren. Sie hat ein didaktisches Modell entwickelt, welches sich am „Musikgarten“-Prinzip orientiert und auf stilistische Bandbreite setzt. „Da die Kinder sehr klein sind, braucht man schnelle Wechsel, um sie bei der Stange zu halten.“ Demzufolge kann eine Musikstunde gleichzeitig aus Tanz, Gesang, rhythmischen Übungen, Sprecherziehung, Hörspiel und auch Fingerübungen bestehen: „Gelehrt“ wird in maximal fünfminütigen Items – analog zu Modellen der amerikanischen Instrumentalpädagogik. Langfristige Projektarbeit gibt es dagegen nicht.
Obwohl sich Barabara Lieske in einigen Bereichen durchaus am Berliner Musikkindergarten orientiert (etwa durch das Einladen von Profi-MusikerInnen aus benachbarten Orchestern), steht in Leichlingen eher der spielerische Umgang mit Musik im Vordergrund. Es geht weniger um einen Bildungsgedanken via Musik, sondern um den Spaß am Umgang mit ihr.
Dank des hervorragenden Betreuerschlüssels von bis zu drei Erzieherinnen auf neun Kinder ist ein Höchstmaß an individueller Förderung gewährleistet. Aufgrund dieser günstigen Gesamtsituation bietet Barbara Lieske für jedes Kind auch zusätzlich Einzelunterricht auf dem Klavier an – kostenfrei ab dem zweiten Lebensjahr. Auf diese Weise sollen sich spielerischer Ansatz und fundierte Instrumentalausbildung ideal ergänzen.
Interessierte Eltern müssen lediglich die üblichen Kindergartensätze bezahlen, zusätz­liche Kosten übernimmt das Jugendamt. Voraussetzung ist allerdings, dass aufgrund der Lebenssituation ein besonderer Betreuungsanspruch vorliegt, etwa weil beide Elternteile arbeiten.
Die Resonanz auf Lieskes Modell ist beachtlich: Viele Eltern von Kindern, die in diesem besonderen Kindergarten waren, berichten, ihre Kinder seien durch die Musikinstitution der Kleinstadt frühkindlich geprägt worden. Ob sich die erlernten Fähigkeiten allerdings auch ohne weitergehende Förderung in späteren Jahren konservieren lassen, bliebe im Rahmen der musikpädagogischen Forschung zu untersuchen.

Düsseldorf

Die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt gilt mittlerweile in Deutschland als wegweisend in Sachen Musikkindergärten. Das mag zum einen daran liegen, dass durch „JeKi“ bereits breite politische Schichten für die Unterstützung von musikalischer Arbeit mit Kindern sensibilisiert sind. Zum anderen aber hat man schon früh Sponsoren und Stifter gewonnen, die die pädagogische Arbeit in den örtlichen Musikkindergärten unterstützen. Eine Ausgangsbasis, die man für ein umfassendes Bildungsprogramm genutzt hat:
– Kooperationen zwischen Musikkindergärten und benachbarten Grundschulen,
– Kooperationen mit kulturellen Einrichtungen (z. B. Oper oder Düsseldorfer Tonhalle),
– musikalische Qualifizierungsmaßnahmen für Erzieherinnen,
– Entwicklung von Nachhaltigkeitskonzepten für die Zeit nach dem Musikkindergarten,
– individuelle Fördermodelle für besonders begabte Kinder.
Die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen pädagogischen – (Musik-)Hochschule, Musikschule – und politischen Institutionen – z. B. Jugendamt – befruchtet die musikpädagogische Arbeit schon seit Langem. Bereits im Jahr 2008 erging ein Beschluss des Rats der Stadt, ausgesuchte Kindertageseinrichtungen zu Musikkindergärten auszubauen und die konzeptionelle Arbeit voranzutreiben. Das Resultat ist ein eigenständiges Programm zu einer „sprachlichen, motorischen, sensorischen und musischen Förderung der Kinder“,1 das zudem international ausgerichtet ist. Gesellschaftliche Realitäten sollen berücksichtigt, kulturelle Vielschichtigkeiten gelebt werden: „Dies schließt multikulturelle Erfahrungen von Musizieren, Singen und Bewegen als Alltagskultur mit ein“, so das Konzept. Darauf könnte dann auch ein interkultureller Musikunterricht aufbauen. Gemeinsame Überlegungen dazu von Grundschulen und Musikkindergärten gibt es bereits.

Perspektiven

Die Liste hervorzuhebender Institutionen wäre problemlos erweiterbar, man denke etwa an KISUM in Weimar, den Hamburger Musikkindergarten oder an „Wir Kinder vom Kleistpark“ aus Berlin, die jüngst sogar mit einer Empfehlung des INVENTIO bedacht wurden. Auch diese beispielhaft zitierten Einrichtungen haben sich wie viele andere aufgrund ihrer großen unterrichtspraktischen Erfahrung eigene didaktische Modelle erarbeitet, die der jeweiligen Situation vor Ort Rechnung tragen und neue Zugänge zu den Kindern via Musik etablieren. Insofern bedarf es momentan vor allem weiterer Kommunikation:
– zwischen den einzelnen Musikkindergärten,
– zwischen der Wissenschaft (insbesondere den EMP-Studiengängen) und den Musikkindergärten,
– zwischen den Fortbildungsinstitutionen, hier im Besonderen bei Qualifizierungsmaßnahmen von Erzieherinnen für die Arbeit in Musikkindergärten.
Zusätzlich ist die Anzahl von international ausgerichteten Kongressen zu erhöhen. Das letzte international hochkarätig besetzte Treffen in Deutschland liegt mit dem Berliner Kongress „Musik bildet – Frühe musikalische Bildung“ schon wieder Jahre zurück (2007). Der momentanen „praktischen Explorationsphase“ ist weiterhin Raum zu geben. Ein Fehler wäre es, die Musikkindergärten zum jetzigen Zeitpunkt von außen mit neuen Konzepten überfrachten zu wollen, sie gar in didaktische Korsette zu pressen. Denn auch das gezielte Etablieren von Freiräumen (etwa in fünfminütigen Items pro Tag, in denen sich jedes Kind auf einem neuen Instrument ausprobieren darf) trägt zur Entwicklung der individuellen Musikalität maßgeblich bei. Gerade die Improvisationsfähigkeit der Kinder werde laut den Ergebnissen der Studie Kita macht Musik2 bislang noch viel zu wenig gefördert – obwohl dieses Talent eigentlich früh angelegt sei.

1 Jugendamt der Landeshauptstadt Düsseldorf.
2 Bertelsmann-Stiftung: Kita macht Musik, Gütersloh 2008.

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