© Andreas Brand

Brand, Andreas

Musiklusion

Barrierefreies Musizieren mit digitalen Medien

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 36

Technologie-Konzepte können die aktive kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen fördern. Die im Jahr 2015 gegründete Initiative „Musiklusion“1 von Andreas Brand erprobt in diesem Spannungsfeld neue und unkon­ventionelle Wege. Dahinter verbirgt sich die Philosophie, digitale Gestaltungsmöglichkeiten als Innova­tionsfaktor für gesellschaftlichen Mehrwert einzusetzen, stetig zu hinterfragen und konti­nuierlich weiterzuentwickeln.

„Musiklusion“ lässt sich mit drei Begriffen beschreiben und bewegt sich auf deren interdisziplinären Schnittstellen:
– Kunst & Musik: Dahinter verbirgt sich im Projekt die Auseinandersetzung mit kulturellen Inhalten durch aktiven Zugang zu Musik, Geräusch und Klang.
– Technologie: Dieser Bereich beschreibt die zum Einsatz kommenden Medien und Methoden wie digitale Kommunikationsmedien, Physical Computing, Sensoren und Motoren (auch zweckentfremdet), Aspekte der Mensch-Maschine-Interaktion (z. B. Userinterfacedesign), Audio-Interaction-Design und individuelle Programmierung einer Spielbarkeit musikalischer Strukturen.
– Inklusion: Über diesen Begriff wird gesellschaftlich und wissenschaftlich vielfältig diskutiert. Das Verständnis von „Musiklusion“ fokussiert in diesem Diskurs auf zwei Aspekte: das Begehren nach Ermächtigung (Empowerment) und nach „Normalisierung“2 mit dem Ziel einer aktiven kulturellen Teilhabe.
Diese theoretische Einordnung erhält im Folgenden einen konkreten Praxisbezug.

Wie alles begann

Im Rahmen eines Pilotprojekts (2015/16) wurden Musik- und Klanginteraktionsflächen entwickelt, die sich entlang klanglicher Vorlieben und motorischer Fähigkeiten der Projektbeteiligten der Lebenshilfe Tuttlingen orientierten. Mit einer Gruppe von fünf Personen wurden Musikstücke und Klangfragmente (z. B. ein Gitarrenton, Soundeffekte etc.) angehört und durch verbale Feedbacks oder nonverbale Kommunikation evaluiert, bei welchen Klängen bereits durch das Anhören Reaktionen geäußert wurden. Im nächsten Schritt wurde experimentiert und evaluiert, wie jene Klangvorlieben individuell durch den Einsatz diverser Sensoriken spiel- und erfahrbar werden. So entstanden insgesamt fünf Instrumente, ausgerüstet mit verschiedenen Interaktionsflächen, Lautsprechern sowie Laptops.
Diese Konstruktionen hatten nicht den Anspruch, optisch einem Musikinstrument zu ähneln, sondern nahmen eher einen funktionalen und zugleich abstrakten Charakter ein: Gitarrenklänge wurden spielbar über Abstandssensoren, Comic-Sounds über kapazitive Sensoren, Akkordeonklänge über einen MIDI-Controller in Kombination mit einem Abstandssensor, Playbacks über einen Joystick sowie eigens aufgenommene Samples über einen MIDI-Controller. Neu für die Beteiligten war, musikalische In­teraktionsmöglichkeiten nicht mehr auf Orff’sches Instrumentarium zu beschränken (insofern dies die motorischen Fähigkeiten überhaupt zuließen), sondern auf bisher noch nie dagewesene Klanginteraktionen zu erweitern. Roland Schnee, einer der Projektbeteiligten, sagte im Prozess seiner Akkordeon-Entwicklung: „Akkorden teuer. Kann nicht kaufen. Nicht spielen. Jetzt hab ich doch eins.“
In den Folgeprojekten wurden weitere Formen der barrierearmen Musik- und Klang­interaktion konzipiert und umgesetzt: Es wurde eine interaktive Natur-Klangwand für das Foyer des Förder- und Betreuungsbereichs realisiert, zudem wurden mit Virtual-Reality-Technologien in Surroundsound gestaltbare Klangwelten erschaffen. Diese und weitere Projektabschnitte werden hier nicht näher beschrieben, sind aber mit Videos unter musiklusion.de/category/ projekte dokumentiert.

Herkömmliche Instrumente mit digitalen Schnittstellen

Die Anschaffung eines Disklaviers3 im Jahr 2019 führte zu einer inhaltlich völlig neuen Dimension und beschreibt zudem einen Wendepunkt künftiger inhaltlicher Ausrichtungen. Ein Disklavier ist ein augenscheinlich herkömmliches Klavier, das durch eine Datenschnittstelle zum Selbstspieler wird, wodurch sich die Tasten wie von Geisterhand bewegen. Nachdem in vorangegangenen Projektabschnitten vorranging mit Klängen über Lautsprecher interagiert wurde, eröffnete das Disklavier das scheinbar Unmögliche, ein herkömmliches Musikinstrument zu spielen. Dieser Aspekt steigerte sichtlich die Selbstwirksamkeit der Beteiligten.
Auch das Erlernen eines herkömmlichen Instruments über digitale Schnittstellen bleibt ein stetiges Experimentieren. Mit dem Disklavier wurde die Klanginteraktion über Smartphones und Tablets eingeführt. Dabei kommt die Software „Touch OSC“ zum Einsatz, die zunächst nichts Weiteres als Daten generiert: Verschiedene Elemente wie Push-Buttons, Schieberegler etc. können angepasst auf motorische Fähigkeiten in unterschiedlichen Größen sowie an unterschiedlichen Positionen des Displays po­sitioniert werden.
Die ersten Versuche stellten einfachste Interaktionen zwischen Mensch und Maschine dar: Das Drücken einer Taste löste entweder einen Ton oder einen Akkord am Klavier aus. Der weitere Prozess lässt sich beschreiben wie ein „herkömmlicher“ Prozess, ein Musikinstrument zu erlernen. Einfache Interaktionen wurden weiterentwickelt und in ihrer Bedienung komplexer: Steuerungsmöglichkeiten wie Tonmaterial, Anschlagsdynamik sowie das Pedal kamen sukzessive hinzu. Mit jedem weiteren steuerbaren Parameter wurde auch die Dateneingabe vielschichtiger und unter anderem durch das Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Steuerungsseiten in „Touch OSC“ umgesetzt. Über einfache Stepsequencer erlernten die Beteiligten Gestaltungsmöglichkeiten eines Grundrhythmus im Zusammenspiel mit freieren Formen der musikalischen Gestaltung.
Auch das zeitgleiche Spielen mit mehreren Devices an einem Instrument konnte erfolgreich erprobt und zur Aufführung gebracht werden. Im Rahmen einer Kulturveranstaltung gestalteten die Musizierenden aus der Lebenshilfe einen von vielen musikalischen Programmpunkten. In einem iterativen Prozess wurde mit einem Rapper aus dem Werkstattbereich der Lebenshilfe ein Stück erarbeitet: Über mehrere Wochen hinweg setzte sich die Gruppe mit dem Genre Hip-Hop und verschiedenen Möglichkeiten der Gestaltung eines Musikstücks auseinander. Dies umfasste entlang oben beschriebener Methoden ein kontinuierliches Austarieren von musikalischen Strukturen und deren Steuerungsmöglichkeiten über entsprechende Eingabeformate. Die aktive Gestaltung eines Konzertbeitrags, die Probenarbeit, das Musizieren auf einer Bühne vor Publikum, Lampenfieber zu erfahren, Applaus zu erhalten, Teil einer Gemeinschaft zu sein, mit anderen Kulturschaffenden in den Dialog zu treten, sind allesamt keine Selbstverständlichkeiten und stellten für den Großteil der Beteiligten eine Lebenspremiere dar.
Beschwingt durch die positiven Erfahrungen mit dem Disclavier setzte sich „Musi­klusion“ zum Ziel, weitere Instrumente mit eigenen Technologiekonzepten aufzurüsten. In enger Zusammenarbeit mit Lehrenden und Studierenden am Hochschulcampus Tuttlingen wurde die technologische Erweiterung eines Schlagzeugs mit zwölf steuerbaren Motoren entwickelt. Der regionale Fernsehsender Regio TV begleitete das Projekt: musiklusion.de/regiotv2020. Weitere Instrumente sind in Entwicklung.

„Musiklusion“ – quo vadis?

Die technologischen Erweiterungen eröffnen das Ziel, auf Augenhöhe in inklusiven Ensembleformaten zu agieren. Dies wurde bereits beim Neujahrsempfang der Lebenshilfe 2020 erfahrbar. Projektbeteiligte begleiteten selbstständig am Disklavier eine Sängerin der Musikschule Tuttlingen. Daran anknüpfend waren weitere Kooperationen im Sinne einer Durchmischung bestehender Ensembles sowie Auftritte geplant. Die Corona-Pandemie zerschlug jedoch sämtliche Aktivitäten und somit auch das Begehren nach aktiver kultureller Teilhabe. Anstelle dessen wurde der partizipative Online-Musikwettbewerb „Grenzenlose Konzerte“4 vor dem Hintergrund ins Leben gerufen, ein digitales Experiment der künstlerischen Zusammenarbeit mit Kulturschaffenden außerhalb der Lebenshilfe zu erproben. Darin wird auch das technologisierte Instrumentarium mit seinen digitalen Spielweisen hör- und erfahrbar. Inklusive Ensembleformate und die damit verbundene Durchbrechung institutioneller Rahmenbedingungen bleiben bei allen momentanen Planungsunsicherheiten weiterhin ein wesentliches Ziel.

1 www.musiklusion.de
2 Mai-Anh Boger: „Das Andere, das Schöne und die Päda­gogik. Was bedeutet ‚Inklusion‘ für die Kunstpädagogiken?“, in: Ula¸s Akta¸s/Thomas Gläßer (Hg.): Kulturelle Bildung in der Schule. Kulturelle Schulentwicklung, Selbstbestimmung im Unterricht und Inklusion, Weinheim 2019, S. 190-216.
3 Musiklusion finanziert sich ausschließlich über die erfolgreiche Platzierung von Förderanträgen sowie die Akquise von Drittmitteln. 2021/2020 – The Power of the Arts | 2020/2019 – Impulse Inklusion des Landes BW | 2016 – B. Braun Preis für soziale Innovationen. Außerdem kontinuier­liche sowie punktuelle Förderung: Aesculap AG, Lions Club, Rotary Club, Klavierhaus Hermann, Landkreis Tuttlingen, Tuttlinger Bürgerstiftung, Kreativbüro Raphaela Sigg, audity GmbH sowie private Förderer.
4 https://wettbewerb.musiklusion.de

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2021.