Schäffler, Philipp
Musikschule 2.1
Instrumentalunterricht im digitalen Zeitalter
Versetzen wir uns in das Jahr 2050: Wissenschaftler gehen davon aus, dass bis dahin Supercomputer durch die Auswertung riesiger Datenmengen die menschlichen Fähigkeiten in fast allen Bereichen übertroffen haben werden.1 Wie sehen in dieser gewissermaßen absehbaren Zukunft die Musikschulen aus?
Szenario 1: Die traditionelle Musikschule hat sich aufgelöst. Instrumente werden jetzt online unterrichtet. Der Preismarkt ist von den Online-Musikschulen hart umkämpft, man versucht, sich mit Qualität und berühmtem Lehrpersonal von den ungezählten InstrumentalpädagogInnen abzugrenzen, die ihre Tutorials kostenlos bei YouTube hochladen.
Szenario 2: Nicht nur die Musikschule ist aus der Kulturlandschaft verschwunden, auch der traditionelle Lehrer ist bei Weitem nicht mehr so gefragt wie früher. Denn die Apps für Instrumente lassen sich so intuitiv bedienen, dass Maria Montessoris Diktum „Hilf mir, es selbst zu tun“ gänzlich erfüllt ist.
Szenario 3: Die Musikschulen bestehen weiterhin, aber die traditionellen, realen Instrumente sind mehr oder weniger verdrängt. Nun erschließt man sich auf zahlreichen neuen, virtuellen Instrumenten unerhörte Klangwelten, beispielsweise mit dem „iPad Aerostring“ oder der „Google Backpipeharp“. Die Spieloberflächen der Tablets sind weiterentwickelt und reagieren hochsensibel auf Fingerdruck, Atemführung, Haltung und Bewegung. Nicht nur das Übeverhalten und der Lernfortschritt werden auf dem Tablet dokumentiert, sondern die geforderten Etüden werden individuell auf den Schüler abgestimmt, um spielerisch das nächste Level zu erreichen. Darüber hinaus ist das neue „Allround-Musikinstrument“ vergleichsweise billig und passt in jede Tasche. Galt früher die Orgel als Königin der Instrumente, lässt das Tablet 2050 die verschiedenen Register der Orgel und damit die Möglichkeit, andere Instrumente zu imitieren, „alt“ aussehen. Auf dem Computer, dem Tablet oder dem Smartphone können per Knopfdruck alle Instrumente in allen nur erdenklichen Spielweisen abgerufen werden, die dank verbesserter Samplingraten nicht mehr vom Original zu unterscheiden sind.
Szenario 4: Die Musikschulen funktionieren immer noch so wie im Jahr 2015. Das Smartphone wird gerne als Metronom, Notenbuch, Aufnahme- und Stimmgerät verwendet, aber ansonsten ist die Musikschule nach wie vor ein Ort, an dem man unter professioneller Anleitung ein traditionelles, reales Instrument erlernt. Das Tablet hat sich im Instrumentenkarussell nicht durchsetzen können und ist in anderen Bereichen präsent, aber nicht im Instrumentalunterricht.
Das Gedankenspiel ließe sich mit großer Freude weitertreiben, und vermutlich wird die Zukunft eine Mischung aus den angedeuteten Szenarien bringen, die ja teilweise schon eingetreten sind.
Musikinstrumente sind ideale Übungsmedien
Die Frage, welchen Einfluss die digitale Revolution auf den Instrumentalunterricht haben wird, führt zu sehr grundsätzlichen Fragen, deren Beantwortung einer philosophischen Positionierung gleichkommt, nämlich wie der Mensch in der Welt ist und wie und ob die digitalen Medien die Beschreibung des Menschen verändern werden. Greift man den Ansatz des Philosophen Peter Sloterdijk auf, braucht man sich um die Zukunft des Instrumentalunterrichts keine Sorgen zu machen. In seiner Anthropologie versteht er den Menschen als ein „übendes Wesen“ und definiert Übung als „jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei die als Übung deklariert oder nicht“.2 Sein Übungsbegriff bezieht sich demnach auf jegliche Form des Lebens; und doch geht er nicht zufällig einerseits auf die Pädagogik, andererseits auf den Instrumentalvirtuosen ein. Letzterer ist ein Vorbild, da er durch stetige Wiederholung und Anleitung eines „Trainers“ sich ein artistisches Wissen bzw. Können angeeignet hat.
Entscheidend ist, dass Sloterdijk zwischen einer aktiven und einer passiven Wiederholung unterscheidet. Und ein Musikinstrument scheint für ihn in besonderem Maße geeignet, eine Wiederholung bewusst zu gestalten und nicht geschehen zu lassen. Kurz: Musikinstrumente haben sich in allen Kulturen und Zeiten als ideale Übungsmedien bewährt – und so wird es auch in Zukunft bleiben.
Grundstock an musikalischen Erfahrungen sammeln
Ist ein Tablet aber ein gleichwertiger Ersatz für ein reales Musikinstrument? Durch die Multifunktionalität eines Tablets ist zunächst die Gefahr der Ablenkung wesentlich höher, als wenn sich der Interpret auf ein Instrument allein konzentriert. Darüber hinaus ist ein Musikinstrument mit seinem Körper und seinen spürbaren Schwingungen nicht durch ein Tablet zu ersetzen. Der selbe Klang kann zwar mit einem Tablet erzeugt werden, aber die Resonanz zwischen Spieler und Instrument ist eine andere.
Allerdings ist eine Ausweitung der Übungszone mit Hilfe eines Tablets möglich. Am Beispiel einer E-Gitarre lässt sich dies schon heute aufzeigen. Mit Hilfe einer entsprechenden App kann der Spieler auf eine Vielzahl von Verstärkern und Effektgeräten zurückgreifen, was im Realen bereits aus finanziellen Gründen kaum möglich wäre. Der Spieler kann sich demnach einen noch nie dagewesenen Klang bauen, der sein Spiel befeuert.3 Dabei ist er vor eine ganz neue Herausforderung gestellt, bei der eine Lehrkraft Hilfestellung leisten kann: Aus einer Vielzahl von Möglichkeiten muss ausgewählt werden, da der Gitarrist eben nicht mehr auf den einen Verstärker aus dem Proberaum angewiesen ist, sondern quasi grenzenlos auswählen kann.
Doch wie kommt ein Schüler überhaupt zu einer klanglichen Vorstellung, bevor diese mittels digitaler Technik realisiert oder erweitert wird? In der Regel durch Erlernen eines realen Musikinstruments und damit verbunden durch stetiges und langsames Üben, durch Wiederholen, durch Hören, durch Rückmeldung und durch Probieren. Hier gibt es keine Abkürzung, auch wenn dies gerne von App-Herstellern suggeriert wird.4 Erst wenn ein gewisser Grundstock an musikalischer Erfahrung gesammelt wurde, kann die neue Technik sinnvoll eingesetzt werden, die dann Mittel zum Zweck und nicht bloße Spielerei wird.
Ob sich die Musikschulen diesem neuen, durch eine hohe Medienkompetenz geprägten Aufgabenfeld öffnen, wird sich zeigen. Eine Institutionalisierung von App-Instrumenten ist ohnehin schwerer, da hier eine stetige Entwicklung herrscht und das Spielen mit Sounds und Klangfarben sowie die Erschaffung neuer Hyperinstrumente im hohen Maße individuell und schwer lehrbar ist.
Instrumentalunterricht als Refugium
Die Digitalisierung dringt in fast alle Lebensbereiche ein. Die Rede ist von einer Revolution, von einem historischen Umbruch, der gerne mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts verglichen wird.5 Die Digitalisierung hat die Musikwelt nachhaltig verändert. Die Art und Weise, Musik zu hören, zu kaufen, zu teilen, zu reflektieren, zu komponieren und zu machen, hat sich seit dem Übergang von der analogen in die digitale Sphäre rasant entwickelt.
Vieles ist einfacher geworden, man denke nur an Notenprogramme, die einem das Ergebnis sofort vorspielen können. Digitale Musikinstrumente werden auf eine riesige Datenbank zurückgreifen und dem Interpreten bestimmte Entscheidungen bezüglich Klangfarbe, Formverlauf, Dynamik, Rhythmik, Melodieverlauf, Harmonik und vieles mehr in Echtzeit abnehmen können. Virtuelle Orchester werden schneller und vor allem billiger Kompositionen zur professionellen Aufführung bringen.
Und dennoch: Ist das Spielen eines realen Musikinstruments nicht einer der wenigen Bereiche, in denen der Mensch keinen Supercomputer benötigt, dessen Fähigkeiten, Wissen, Schnelligkeit und Präzision die des Menschen bei Weitem übersteigt? Der Instrumentalunterricht würde dann ein Refugium, an dem man sich nicht von Algorithmen die Entscheidung abnehmen lässt, wo es nicht darum geht, schnell und ohne Umwege zum Ziel zu gelangen, sondern vielmehr selbstbestimmt zu handeln und sich dabei als fühlender, denkender und letztlich freier Mensch zu erfahren.
1 siehe z. B. „Digitale Demokratie statt Datendiktatur“ vom 12.11.2015, www.spektrum.de/news/ wie-algorithmen-und-big-data-unsere-zukunft-bestimmen/1375933 (Stand: 2.12.2015). Eine ähn-liche Zukunftsvision breitet der ehemalige Guardian-Journalist Martin Walker in seinem zwischen Fakt und Fiktion liegenden Buch Germany 2064 aus. Interessant ist, dass dort der Musik bei der Erforschung der Künstlichen Intelligenz ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird. Martin Walker: Germany 2064, Zürich 2015, S. 123.
2 Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2009, S. 14.
3 Derzeit lässt sich dies auch gut am Klavier beobachten, dessen Klangwelt und Spieltechnik mittels digitaler Technik erweitert wird. Exemplarisch genannt seien das Duo Grandbrothers und Nils Frahm.
4 Ähnlich optimistisch berichtet Marc Godau vom DigiEnsemble Berlin von Erfahrungen mit iPad-Projekten an Schulen. Interessant wäre es allerdings zu erfahren, ob die Schüler über den ersten Zugang zum Musikmachen mit dem iPad dabei geblieben sind oder nicht. (www.koerber-stiftung.de/mediathek/player/wie-neue-medien-die-musikwelt-veraendern, Minute 56 ff.) Das Video ist der Mitschnitt einer Tagung vom Oktober 2015 der Körberstiftung zum Thema „Wie die Neuen Medien die Musik verändern“ und gibt einen sehr guten Über- und Einblick in die Thematik. Nach meiner Erfahrung verliert das Arbeiten mit Tablets für Schüler schnell an Reiz, wenn es eben kein Kommunikations-, sondern
ein Arbeitsmittel wird. Es ist dann nicht mehr der anpassungsfähige Glücksspielautomat, der das Handy eigentlich so attraktiv macht.
5 exemplarisch und aktuell: Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiself: Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können, München 2015. Die Autoren behaupten, dass im Bereich des Lernens „kein Stein auf dem anderen“ (S. 155 ff.) bleibt. Ihre streitbaren Thesen der Demokratisierung und Individualisierung von Bildung verkaufen sie allerdings ganz konservativ in Buchform.