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Grunenberg, Manfred

Musikschulen und Digitalisierung

Wie digitale Transformation den Unterricht verändern wird

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 4/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 04

„Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden.“ Das sagte Carly Fiorina, Chefin des Hardware-Herstellers Hewlett Packard vor zehn Jahren. War der Satz damals in die Zukunft gerichtet, so benennt er heute die Realität: In alle Bereichen des Lebens ziehen digitale Verfahren ein. Und die Entwicklung seit 2009 hat die Erwar­tungen deutlich übertroffen: Es geht rasend schnell in Richtung umfassender digitaler Transformation.

Musikschulen haben erkannt, dass die Digitalisierung auch an ihren Instituten nicht vorbeigeht. Zu groß ist das Risiko, in einigen Jahren als hoffnungslos veraltet zu gelten. Vor allem die Erwartungen der Nut­zer, der Lernenden und ihrer Familien, werden die Musikschulen zwingen, digitali­sierte Vorgänge einzurichten: Anmeldungen online, digitale Rechnungen, mobile Bezahlwege. Und der Unterricht?
MusikpädagogInnen verweisen gerne auf die Verwaltung, die sich mit Digitalisierung beschäftigen sollte. Bestenfalls werden Websites und Präsenzen in den Sozialen Medien als akzeptable digitale Areale angesehen. Vielleicht lässt man gerade noch die Unterstützung beim Lernen der Musiktheorie gelten. Aber, so denken und hoffen viele Lehrende, in der Herzkammer der Musikschule, dem Unterrichten nach altehrwürdigem Meister-Schüler-Prinzip, verbiete sich jegliche Digitalisierung. Hier könne dem Lernenden ausschließlich die stetige persönliche Anwesenheit eines Lehrenden einen Fortschritt bringen. Doch nicht nur auf der Ebene der Verwaltung und Organisation einer Musikschule wird digitalisiert werden müssen. Auch der Unterricht selbst wird enorme Unterstützung erfahren, wenn man digitale Verfahren angemessen einsetzt.
Doch müssen Fragen zur Digitalisierung differenziert betrachtet werden: Einerseits gibt es aktuell einen Hype um das Thema. Der technologische Quantensprung, in dem wir uns mittendrin befinden, ist tatsächlich vergleichbar mit dem Wechsel vom Pferd zur Dampfmaschine oder von der Brieftaube zum Telefon. Andererseits muss vor unkritischer Idealisierung gewarnt werden. Im Moment geht mit der Verherrlichung des Digitalen eine Reduzierung der Diskussion auf einfache Ausstattungsfragen einher. So als ob es ausreichen würde, WLAN einzurichten und jedem Kind ein Tablet in die Hand zu drücken, um digitale Segnungen zu ernten. Erst wenn die Lehrenden die optimalen Unterstützungsmöglichkeiten aus digitalen Geräten und Prozessen gezogen haben, das heißt nach intensiver Konzeptentwicklung und Weiterbildung, kann auf Gewinn gesetzt werden. Es bleibt also die Frage, wie digitale Verfahren dem Unterricht der Musikschulen helfen können.

Digitale Transformation als Ergänzung

Verspürt ein Musikfreund den Wunsch, erste Erfahrungen mit einem Musikinstrument zu gewinnen, geht er heute in der Regel nicht in die Musikschule, sondern „ins Internet“. Dort findet er eine Fülle von Erklärvideos, sogenannte Tutorials. Für jedes Musikinstrument und jeden Musikstil gibt es gut gemachte Lehr- und Lernvideos, die dem Interessierten das Inst­rumentalspiel vermitteln – jedenfalls die Anfänge. Das sollte die Musikschulen beunruhigen, da die InstrumentalanfängerInnen eine ihrer wichtigsten Zielgruppen sind, die nun auch von den Tutorials umworben werden. Mit einem Tutorial kann ich extrem flexibel lernen: Das Wann und Wo lege ich fest, ich kann es beliebig oft ansehen und bestimme selbst das Lerntempo. Viele Erwartungen, die heute in der Gesellschaft ganz selbstverständlich vorliegen, kann das Tutorial erfüllen. Die Angebotsformen der Musikschule kommen demgegenüber schnell ins Hintertreffen. Also braucht man gar keine Lehrenden und keine Musikschule mehr, um ein wenig in die Bedienung eines Musikinstruments einzusteigen?
Noch bleibt Zeit, die Musikschulen so vor­zubereiten, dass sie in einer digitalen Welt überleben können. Die Musikschule könnte sich zum Beispiel mit eigenen Internet-Tutorials vorstellen und mit einem Coa­ching-Angebot ihrer Lehrenden verbinden. Vor allem kann sie mit ihrer Fähigkeit glänzen, auf weiterführende Interessen individuell zu reagieren, viele Musiziergelegenheiten und soziale Zusammenhänge zu bieten. Es geht also in erster Linie um digitale Ergänzungen der herkömmlichen Angebotsformen. Die folgenden fünf Beispiele wollen zum Nachdenken und Experimentieren anregen. Die wichtigste technische Voraussetzung liegt heute bei Lehrenden und Lernenden vor: das Smart­phone in der Tasche.

Präsenz, Tele- und Hybridunterricht

Müssen sich Lehrkräfte und SchülerInnen wirklich körperlich gegenübersitzen oder stehen? Könnte der Kontakt auch über Bildschirm, Skype oder ZOOM erfolgen? Mit Ja oder Nein zu antworten, ist zu einfach, denn es gibt viele graduelle Abstufungen: Statt „ganz oder gar nicht“ können sich Lehrende und Lernende gelegentlich über den Bildschirm – zum Beispiel jedes zweite Mal – treffen; oder der Telekontakt kann relativ regelmäßig sein, aber ergänzt durch eine intensive Projektphase. Man kann sich viele Formen vorstellen.
Es wäre zweifellos dumm, den persönlichen Unterricht zugunsten des Videounterrichts aus der Ferne abschaffen zu wollen. Aber an manchen Orten, in manchen Situationen kann es helfen, Fahrten, Reisezeiten und Platzprobleme zu reduzieren. Diese Idee ist für (Kreis-)Musikschulen, die große Gebiete bedienen müssen und zu denen Anreisen für die SchülerInnen sehr zeitaufwendig sind, unmittelbar plausibel.
– In Schleswig-Holstein läuft ein faszinierendes Projekt: Für das Landwirtschaftsministerium wird geprüft, ob die Benachteiligung ländlicher Räume im Bereich der kulturellen Bildung durch digitale mobile Dienste und Strukturen verringert werden kann. Die Ergebnisse werden im Herbst 2019 vorliegen (https://musikschulen-sh.de/ momush).
– Die Musikschulen im Ruhrgebiet haben sich vernetzt, um digitale Unterrichtsformen für ihre großstädtische Umgebung mit hohem Anteil an gemischtkultureller Bevölkerung zu entwickeln (www.ruhrmusikschulen.de).
– Ein sehr erfolgreicher Instrumentalpädagoge mit internationaler Reichweite und verteiltem Schülerkreis konnte aufgrund einer Krankheit nicht reisen. Er setzte seine Lehrtätigkeit digital fort und unterrichtet seither ausschließlich über den Bildschirm. Inzwischen verteidigt er diese Form, unterstreicht deren Vorteile und sieht sich keinesfalls durch räumliche Distanz und technisch vermittelte Lehre behindert.

Hausaufgabenhilfe

„Man sollte die Lernenden öfter als einmal wöchentlich sehen“, ist eine Klage, die sich wie ein roter Faden durch die Musikschulen zieht. Man müsste mindestens zweimal pro Woche unterrichten, idealerweise täglich. Dahinter steht der Wunsch, den SchülerInnen jederzeit Hilfe leisten zu können und zu sehen, was sie, womöglich falsch, geübt haben. Dazu gibt es digitale Perspektiven:
– Die entscheidenden Teile der Hausaufgaben werden von den Lehrenden mit dem Smartphone aufgezeichnet und den SchülerInnen per Handy oder Streaming über die Woche zur Verfügung gestellt.
– Die Lernenden nehmen mit dem eigenen Gerät kleine Video-Sekundenaufnahmen der entscheidenden Handhaltung, der Melodie oder der Interpretation auf. Diese Clips helfen ihnen, sich zu Hause beim Üben daran zu erinnern.
– Lehrende erstellen kleine Sammlungen von Sekunden-Videoclips, die sie selbst mit ihrem Smartphone mit minimalem Aufwand aufgenommen haben. Sie zeigen die entscheidenden Prozesse und Haltungen im Bewegtbild, in kleinen Szenen. Die Lernenden können diese kleine Bibliothek jederzeit konsultieren, insbesondere zu Hause, während sie üben und sich über die gewünschte Haltung oder Interpretation informieren. Der langsame Aufbau einer solchen Clip-Bibliothek ist auch ein gutes Thema für die kollegiale Zusammenarbeit an der Musikschule.

Play-alongs und Streaming

Wenn sich die Lehrkräfte einer Musikschule auf Materialien, Stücke und Werke einigen, die sie gemeinsam im Unterricht verwenden, kann ein solcher „Kanon der Materialien“ dazu dienen, bei der Bildung von Ensembles auf ein gemeinsames musikalisches Repertoire zurückzugreifen. Die Musikschule kann geeignete Playbacks für das Spielen im Unterricht und das Üben zu Hause produzieren und zur Verfügung stellen. Die Lernenden können sie über ihr Heim-WLAN direkt vom Server der Musikschule zum Üben streamen. Die urheberrechtlichen Anforderungen sind jedoch zu beachten und sollten überregional vertraglich gelöst werden. Diese Aufgabe sollte vom Verband der Musikschulen übernommen werden.

Animation zum Musikmachen

Was können Musikschulen Erwachsenen bieten? Viele haben sich noch nicht für ein bestimmtes Instrument entschieden und wollen trotzdem „etwas mit Musik“ machen. Sie scheuen die manuelle Konfrontation mit einem Instrument und möchten sofort, ohne Übephase, eigene Erfahrungen mit der Musik sammeln. Bisher gibt es die bekannten Möglichkeiten wie Bodypercussion, Orff-Instrumente und das Hören von Musik oder, in begrenztem Umfang, das Singen.
Wie wäre es mit der Möglichkeit, das Musizieren zunächst mit einer „App“ auszuprobieren, die man ja sowieso auf seinem „mobilen Endgerät“ in der Tasche hat? Das Musizieren mit Smartphone und Tablet verspricht musikalische Erlebnisse in einer steilen Lernkurve. Der Endpunkt der klanglichen Begeisterung ist jedoch meist bald erreicht und der Wunsch wird stärker, auch mit einem herkömmlichen Musik­instrument zu beginnen. Und wer könnte diesen Lernweg besser anregen, organisieren und moderieren als Musiklehrende, die über die anregende Lernumgebung einer Musikschule verfügen?

Integrativ

Menschen mit Behinderungen können mit den entsprechenden Apps in faszinierende musikalische Prozesse integriert werden und komplexe Klänge erzeugen, die sie wegen ihrer Einschränkung mit „analogen“ Musikinstrumenten niemals hätten produzieren können. Es ist faszinierend zu be­obachten, dass sich musikalisches Talent trotz massiver Mehrfachbehinderungen oft als völlig ungehindert erweist. Die Videos von „Drake Music Scotland“ zeigen überzeugende Beispiele (https://drakemusicscotland.org). Die nützliche Hilfe der digitalen Endgeräte ist bei LehrerInnen im Integrationsbereich unbestritten.
Diese fünf Bereiche decken bei Weitem nicht alle Perspektiven ab. Sie zeigen jedoch exemplarisch, wo digitale Prozesse helfen können. Vorsichtig eingesetzt können sie die angemessene Transformation der Musikschulen hin zu digitaler Unterstützung begleiten.

Blick in die Zukunft

Zwei Entwicklungen möchte ich nennen, die noch nicht konkret in der Praxis stehen, sich aber schon deutlich abzeichnen: G5 und KI.
Der kommende Mobilfunkstandard G5 wird ein schwindelerregendes Tempo in der Datenübertragung ermöglichen. Damit einher geht das Verschwinden der Latenz, der Verzögerung zwischen dem Tastendruck hier und dem ausgelösten Klang im Lautsprecher bei einem beliebig entfernten Musizierpartner. Diese Latenz verhindert heute noch gemeinsames Musizieren z. B. via WLAN, da die Verzögerungen nicht zu beherrschen sind. Das wird sich aber mit dem Einzug des nächsten Standards ändern. Ohne merkliche Latenz – sie wird im Bereich um ein bis drei Mikrosekunden liegen – wird man über Kontinente hinweg in CD-Qualität gemeinsam musizieren können. Es wird technisch und musikalisch vorstellbar, einen Keyboarder, der in Berlin oder Tokio musiziert, in die Präsentation einer Band einzubinden, die gerade in Bielefeld ein Konzert gibt. Man sollte auf solche Entwicklungen vorbereitet sein und sie in unseren Dienst stellen, sobald sie verfügbar sind.
KI, künstliche Intelligenz, komponiert heute schon Musik für Aufzüge, Kaufhäuser und Filmproduktionen. Bei komplexer Musik sind die Ergebnisse zwar noch unbefriedigend, werden aber täglich besser. Ein Beispiel: Übungsstücke können mit KI angepasst an jeden einzelnen Lernenden erstellt werden. Schnell den aktuellen Stand des Lernenden und den gewünschten Musikstil eingegeben und schon sprudeln aus der KI-gesteuerten App kurze Übungsstücke hervor, als Klangdatei und als Notenblatt. KI wird die Leistung jeglicher Software auf eine neue Leistungsebene heben und wir können, richtig eingesetzt, ungeahnte Unterstützung erfahren.
Aber keine Sorge: Digitale Verfahren werden die analogen Instrumente nicht ersetzen. Sie sind unverzichtbar und konkurrenzlos, auch wenn digitale Prozesse sie massiv unterstützen und ergänzen. Die Unmittelbarkeit der Klangerzeugung, die haptische und taktile Wahrnehmung beim Instrumentalspiel sind von einzigartiger Bedeutung für uns Menschen. Gerade Kinder und Heranwachsende können ihre Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit durch analoges Instrumentalspiel optimal schärfen. Die hochdifferenzierte Interak­tion zwischen Mensch und Instrument wird die Grundlage der Musik bleiben.

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