Kienast, Nora Sophie
Musikwettbewerbe unter Legitimationsdruck
Wie Beziehungsgeflechte und suggestive Faktoren Juryurteile beeinflussen
International renommierte Musikwettbewerbe fungieren für aufstrebende MusikerInnen als „Türöffner in die Welt des Konzertbetriebs“. Der Jury falle daher die verantwortungsvolle Aufgabe zu, nicht nur Wettbewerbsleistungen zu bewerten, sondern deutlich weitreichender über Karrieren und Lebensläufe zu entscheiden. Der hohe Stellenwert treffe jedoch auf erhebliche Intransparenz hinsichtlich der Entscheidungsprozesse im Wettbewerbsverlauf, so Kienast.
Ihre qualitative Studie stützt sich auf Leitfaden-Interviews mit zehn Jurymitgliedern und vier TeilnehmerInnen internationaler Musikwettbewerbe im Instrumentalbereich. Der Ergebnisteil der Arbeit gliedert sich in drei Kapitel, in denen Kienast jeweils eine Zusammenfassung des Forschungsstands mit exemplarischen Einblicken in die Interviews kombiniert. Zunächst werden Bewertungsvorgänge und -kriterien untersucht; die Autorin stellt eine eher intuitive, holistische und eine durch Kriterienkataloge systematisierte Bewertung von Musikperformances als Alternativen vor. Das nächste Kapitel behandelt „Beeinflussungen auf die Jurierenden, die suggestiv wirksam werden“ – wie etwa visuelle Faktoren wie Körperbewegung, Mimik und Attraktivität, aber auch Gender oder zufällige Faktoren wie die Auftrittsreihenfolge im Wettbewerb. Im dritten Schritt wendet sich die Autorin Einflussfaktoren zu, die sich „aus der Jury selbst heraus ergeben“, so etwa informelle Kommunikation und Bewertungsdiskussionen zwischen Jurymitgliedern, Beziehungsgeflechte innerhalb der Jury sowie mit Teilnehmenden und die Ergebnismanipulation durch Jurymitglieder, z. B. in Form von strategischem Herunterpunkten oder Deals.
Kienast fächert differenziert auf, wie vielfältig die Faktoren sind, die bei der Bewertung musikalischer Leistungen die Entscheidungsfindung sowohl auf individueller Ebene als auch im fachlichen und personellen Gesamtgefüge der Jury zu einem komplexen, anfälligen Prozess werden lassen. Sie bleibt nicht bei der Problemdiagnose stehen, sondern formuliert abschließend in einem Leitfaden konstruktive Reform- und Professionalisierungsansätze, die nicht nur das individuelle Verhalten adressieren, sondern VeranstalterInnen in die Verantwortung nehmen.
Etwas intensiver könnten das methodische Vorgehen und seine Grenzen reflektiert werden. In der sprachlichen Gestaltung fallen Formulierungen auf, die stark wertend wirken. Einerseits bezieht Kienast damit klar Stellung und benennt Missstände ungeschönt; andererseits kann die Darstellung als voreingenommen und normativ empfunden werden. Hier könnten eine klarere Trennung zwischen deskriptiven und normativen Anteilen sowie eine konsequente Reflexion eigener normativer Vorannahmen ein komplexeres, ambivalenteres Bild entstehen lassen, die Aussagekraft der Arbeit aber letztlich stärken.
Carmen Heß