Menke, Markus

Musizieren mit Flüchtlingskindern?

Musik kennt keine Grenzen – das sagt sich leicht, aber macht Unterricht mit Flüchtlingen überhaupt Sinn?

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 1/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Mit dem Gedanken, eine Willkommenskultur zu leben und erfahrbar zu machen, haben sich viele Musikschulen im Land auf den Weg begeben und öffnen ihr Angebot für Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien. In der vergangenen Ausgabe haben wir an den Erfahrungen des Hamburger Konservatoriums Möglichkeiten und Gelingensbedingungen für das Musizieren in diesem Kontext beschrieben. Es gibt aber auch Kritik.

Drei wesentliche Kritikpunkte werden geäußert:
1. Einwanderungspolitisch: In den Erstaufnahmestationen ist der Aufenthaltsstatus der Flüchtlinge noch ungeklärt. Hier bereits Angebote mit integrierendem Charakter zu starten, könnte ein falsches Signal für die Menschen sein.
2. Musikpädagogisch: fehlende Nachhaltigkeit. Die Bedingungen in den Flüchtlingsunterkünften stimmen nicht. Auch wenn die Kinder und Jugendlichen in die Musikschule kommen, haben sie oft nur dort ein Instrument zur Verfügung. Wer kann schon im Zelt, im Containerdorf oder einer Übergangsunterkunft üben? Wie gehen wir mit der Sprachbarriere um? Wer übernimmt die Kosten? Und alles ist sinnlos, wenn Ausweisung oder Transfer an einen anderen Ort drohen. Ärgste Kritiker sprechen von Aktionismus.
3. Partizipatorisch: Flüchtlinge bringen Musik und kulturelle Identität mit. Es ist sozusagen eine Überheblichkeit unsererseits, sie an unsere Musik, Sprache, Kultur heranführen zu wollen.
In solcher Kritik stecken Argumente, die nicht von der Hand zu weisen sind. Trotzdem gibt es viele Gründe, unter den gegebenen Bedingungen zu musizieren!

Einwanderungspolitisch

Die Situation der Flüchtlingskinder muss differenziert betrachtet werden. Auch wenn wir Musikerinnen und Musiker von jeher „fahrendes Volk“ sind, kann einen die Konfrontation mit der unsicheren Lebensrea­lität von Flüchtlingen ganz schön nachdenklich machen.
Zum Beispiel der Aufenthaltsstatus:
– Warten auf Antragstellung, Duldung
– Aufenthaltserlaubnis
– „Blaue Karte EU“
– Erlaubnis zum Daueraufenthalt in der EU
– Niederlassungserlaubnis oder
– Visum.
Die Aufenthaltserlaubnis, die „Blaue Karte EU“ und das Visum werden jeweils befristet erteilt. Die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt sind unbefristet (Quelle: Bundesministerium des Inneren).
Zum Beispiel die Wohnsituation:
– Zentrale Erstaufnahme (ZEA), Gemeinschaftsunterbringung
– Folgeunterbringungen, Wohnanlagen zum Teil mit abgeschlossenen Wohnungen oder eine eigene Wohnung.
Zum Beispiel der Schulunterricht, denn alle Kinder sind in Deutschland schulpflichtig:
– in der Unterkunft
– in einer Schule mit Integrations- und Vor­bereitungsklassen (IVK) oder
– in der Regelschule.
Hinzu kommt die Gruppe unbegleiteter Minderjähriger, die besonderer Aufmerksamkeit bedarf.
Die Konstellation, in der Flüchtlingskinder gerade leben, bestimmt, wie Unterricht und gemeinsames Musizieren angelegt werden können. Vor allem in der ZEA ist die Situation für die Kinder noch sehr provisorisch. Die Familien sind nach ihrer Flucht zum ersten Mal „angekommen“ und warten auf den Entscheid über ihren Aufenthaltsstatus. Die erlebte Flucht und die Unsicherheit bestimmen noch das Verhalten. Die Kinder verstehen nicht, warum sie jetzt ein ganz anderes Zuhause haben. Sie müssen Vertrauen für ihr neues Leben aufbauen und gleichzeitig haben sie ständig das Bedürfnis, wieder spielen, lernen, Freundschaften schließen – eben Kind sein zu dürfen. Das Leben in der ZEA ist vom ständigen Wechsel geprägt. Und gleich­zeitig von Langeweile, weil die Möglichkeiten für anregende Beschäftigungen gering sind.
Genau hier setzt Musizieren an und ist besonders hilfreich. Kinder und Jugendliche sind zwar von ihrer Flucht und der einwanderungspolitischen Situation betroffen, die Möglichkeit zu musizieren bringt aber etwas Freude und kreative Beschäftigung in den sonst ziellosen Alltag und lässt die extrem schwierigen Lebensverhältnisse zumindest eine Zeitlang in den Hintergrund treten. Dabei vermittelt Musizieren sicher keiner Familie das falsche Gefühl, dadurch unbedingt als asylberechtigt anerkannt zu werden.

Musikpädagogisch

Einfache Einstiege gelingen mit Sing- und Perkussionsgruppen. Mit beiden Angeboten kann Sprachförderung verbunden werden. Über Lieder und Rhythmen finden Kinder und Jugendliche einen ganz spielerischen Zugang zur deutschen Sprache. Singen macht viel mehr Freude, als Vokabeln zu lernen. Lieder sind ja eigentlich für jeden Schulunterricht perfekte Begleiter. Integration und Partizipation können zeitgleich gelingen. Wir können uns von Flüchtlingskindern auch ihre Lieder und Rhythmen beibringen lassen. Es kann ein Geben und Nehmen entstehen. Und: Melodien und Rhythmen aus Afghanistan, Syrien oder Eritrea haben es für uns Europäer ganz schön in sich!
Zum Erfolg aller Angebote tragen vor allem Regelmäßigkeit und personelle Beständigkeit bei. Die Kinder kommen mit einem regelrechten Hunger aufs Lernen und bringen Neuankömmlinge in oder aus der Unterkunft einfach mit. Drei Phasen der Integration sind zu beobachten:
– anfängliche Unsicherheit
– Vertrauensgewinn
– Begeisterung.
Beim Instrumentalunterricht kommt die Frage der Handhabung des Instruments hinzu. Wir musizieren viel mehr im Hier und Jetzt mit den Kindern, als wir es bisher gewohnt waren. Dazu braucht es ein Umdenken. Zentrales Anliegen ist das Musizieren im Moment. Die Kinder freuen sich über diesen intensiven Moment, sie öffnen sich für ein Erlebnis, das sie über die Fluchtrealität hinweg trägt. Das Instrument stimmen, Geschicklichkeit zeigen, einen Klang von der Lehrerin oder dem Lehrer übernehmen, diesen in einen Rhyth­mus einbetten, dazu eine Textzeile in deut­scher Sprache kennen lernen: Das reicht für ein Heute und wird sogar von Kind zu Kind weitergegeben.
Es geht also um gemeinsames Musizieren. Betrachten wir uns doch als Künstlerpartner: Zeigen wir klare melodische und rhythmische Bausteine. Gemeinsam tauchen wir in ein kreatives Spiel mit diesen Bausteinen ein. Kindern und Jugendlichen nach einer Flucht gibt solches Musizieren Persönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes zurück. Es macht sicher Sinn, die Prinzipien der Elementaren Musikpädagogik als Ansatz mit in das gemeinsame Musizieren einzubeziehen.

Partizipatorisch

Letzter Kritikpunkt: Partizipation – Teilhabe versus Wahrung der eigenen Identität. Sicher, Menschen, die bei uns Schutz suchen, sind wegen Krieg, Verfolgung und Hunger geflüchtet. Die meisten – und vor allem die Kinder – wären lieber in der Heimat geblieben. Macht es Sinn, ihnen jetzt unsere Kultur angedeihen zu lassen? Ja, es macht Sinn! Ich möchte auf den Untertitel dieses Artikels verweisen: In allen Kulturen gibt es Musik, Musik kennt keine Grenzen. Wer Flüchtlingskindern und -jugendlichen beim Musizieren zuschaut und zuhört, begreift ganz unmittelbar, was es bedeutet, dass Musik eine universelle Sprache ist. Selten spürt man klarer, dass es ein Bedürfnis des Menschen ist, sich in Klängen und Rhythmen auszudrücken.
Die Menschen sind jetzt in Deutschland mit ihrer Identität und es ist an uns, diese auch kennen zu lernen. Nirgends gelingt es einfacher als im gemeinsamen Musizieren. Ist das Vertrauen aufgebaut, können wir stundenlang ihre Lieder, Feste und Gebräuche kennen lernen: Sie werden sie uns mit Stolz und wiedererwachender Würde zeigen und beibringen – und dann sind wir die Lernenden und Erlebenden.

Finanzierung

Aktuell ist eine Sonderausschreibung im Rahmen von „Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung“ aufgelegt worden. Über das Antragsverfahren „MusikLeben!“ können Musikschulen mit Mitgliedschaft im Verband deutscher Musikschulen Projekte für Flüchtlingskinder im Alter von drei bis 18 Jahren einreichen. Zudem ist die Zivilgesellschaft zurzeit in Deutschland extrem engagiert: Es besteht eine große Bereitschaft für ehrenamtliches Engagement. Dort, wo Ehrenamt nicht ausreicht und es professioneller Kräfte bedarf, lassen sich Patenschaften für eine Finanzierung initiieren. Eine Information über Flüchtlingsarbeit an die Elternschaft der Musikschule fördert die Vernetzung mit Menschen, die sich finan­ziell einbringen möchten.

Schlussbetrachtung

Als Musikerinnen und Musiker können wir uns auf den Moment einlassen; und das ist eine große Chance. Die Kolleginnen und Kollegen des Hamburger Konservatoriums haben am 15. November ein Benefizkonzert zugunsten der Flüchtlingshilfe gegeben, und der kurz vorher in Hamburg eingetroffene Geiger Mohamed-Aeman Alqambre aus Syrien konnte zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder im Kreise anderer Musikerinnen und Musiker konzertieren. Das Erklingen arabischer Skalen und Rhythmen im Kontext unserer wohltemperierten Musik war einer der Höhepunkte des Konzerts. Am 20. November hat das Hamburger Konservatorium „band­boxx“, die mobile Musikschule, in einer Flüchtlingsunterkunft eröffnet. Die Kinder stehen Schlange, um in Fünfergruppen unter professioneller Anleitung musizieren zu können. Ein Moment von Lebensfreude. Musik kennt keine Grenzen!