Lesle, Lutz

Musizieren vernetzt Hirnareale, macht aber kaum klüger

Eckart Altenmüller sprach in Hamburg über die Wirkmächte von Musik

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 42

„Fast wöchentlich wird in den Medien über die wundervollen Auswirkungen von Musik auf das Gehirn berichtet. Wie steht es damit wirklich? Musik hören und Musizieren gehören zu den anspruchsvollsten menschlichen Leistungen, denn Gehörsinn, Motorik, Körperwahrnehmung und emotionales Erleben werden gleichzeitig beansprucht. Musikalische Förderung erzeugt eindrucksvolle Anpassungsvorgänge des zentralen Nervensys­tems, die auch für andere Denkleistungen nutzbar gemacht werden können. Musik kann die Therapie von motorischen Störungen unterstützen und Depressionen lindern. Aber zu viel Musik kann auch ungünstige Folgen haben, Bewegungsstörungen, Burn-Out und Angstkrankheiten bei Berufsmusikern belegen dies.“
So las sich eine Pressemitteilung, die kurz vor Weihnachten trotz Schnee und Eis Hunderte MusikpädagogInnen, Kulturmanager, Volkswirtschaftler, WirtschaftsjuristInnen und Kaufleute in den Albert-Schäfer-Saal der Hamburger Handelskammer lockte. Eingeladen hatte die Claussen Simon Stiftung. 1981 vom damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden der Beiersdorf AG ins Leben gerufen, fördert sie Forschung und Lehre. Sie ermöglicht OberstufenschülerInnen den Einstieg in ein wirtschaftsorientiertes Studium, vergibt Promotions- und Habilitationsstipendien, unterhält Stiftungsprofessuren und vergibt Preise an Mentoren und Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Die Einladung galt einem Vortrag mit dem spannenden Titel: „Die Musik und das menschliche Leistungsvermögen – Die Wirkung von Musik auf Denkleistung, Körper und Seele“. Wenn sich durch Musik – gehört oder ausgeübt – Arbeitsmoral, Konzentration und Leistungsfähigkeit steigern, also höhere Erträge erzielen lassen, hören Wirtschaftsleute schon mal gerne hin. Referent Eckart Altenmüller, seit 1994 Leiter des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, erwarb sich mit seinen Forschungen auf den Gebieten der zentralnervösen Verarbeitung von Musik und der Sensomotorik internationale Reputation. MusikerInnen wissen überdies zu schätzen, dass er als ausgebildeter Flötist am eigenen Leib erfahren hat, wovon er redet und schreibt.
Zu Beginn seines lebhaft vorgetragenen Themenüberblicks sortierte er die „Wirkungen und Funktionen von Musiken“. Dabei unterschied er zwischen humanistischen (richtiger: humanen?) und sozialen Wirkungen einerseits und biologischen beziehungsweise evolutionären Funktionen andererseits. Zu den ersteren zählte er Wiegen- und Kinderlieder (als „Medien“ der Mutter-Kind-Bindung). Als Beispiel für die gruppenbildende und -bin­dende Kraft der Musik nannte er die National­hymne. Dass Musik auch und nicht zuletzt der „Anbahnung von Partnerkontakten“, sprich: der Liebeswerbung dient, ist Musikliebhabern ebenso geläufig (Lauten-Ständchen unter Liebchens Fenster) wie Tierforschern. Manche Vogelarten entwickeln ihr Balz-Repertoire zu seltener Faszination (Brachvogel).
Mit dem Stichwort „Trance und Flow“ spielte Altenmüller auf Musik an, wie sie beim Entspannungstraining oder zu Meditationsübungen eingesetzt wird (Ambient, Ars nova, Arvo Pärt). Wobei er Klänge, die Glücksgefühle auslösen, von „Gänsehautmusik“ unterschied. Unter der Rubrik „Spiritualität“ verwies er auf geistliche Musik im Allgemeinen und liturgischen Gesänge im Besonderen (Gregorianik), vergaß aber auch nicht naturreligiöse Anrufungen und Schamanentum. (Hier hätte man auf die Trommelgesänge der Eskimos oder den „Joik“ der Samen verweisen können).
Zu den biologischen und evolutionären Funktionen von Musik rechnete der Vortragende das „Hörtraining“ zur Verfeinerung der Lautwahrnehmung: ursprünglich mit dem Ziel, Tierstimmen besser zu unterscheiden, vielleicht auch täuschender nachzuahmen, um das Jagdglück zu mehren. Dass Töne der Reviermarkierung dienen – auch das wissen wir von den Vögeln. Töne unterstützen zudem das Gedächtnis. Gesungene Botschaften wirken eindrücklicher und haften besser in der Erinnerung (Bittgesänge, Bänkelsang). Nicht zuletzt wirke Singen und Spielen gesundheitsfördernd, schloss Altenmüller seinen Überblick: Es stärkt die Abwehrkräfte.
„Musizieren als Gehirn-Jogging“ – diesen Vortragspunkt nutzte der Neurophysiologe zu einer kleinen Hirnkunde. Die Frage „Macht Musik intelligenter?“ beantwortete er dahingehend, dass Musizieren die neuronale Kopplung, die Dynamik in den Netzwerken des Gehirns anrege. Schon nach wenigen Stunden Instrumentalunterricht sei bei Kindern eine verbesserte Feinmotorik, eine vergrößerte Hörregion und eine Kräftigung des Corpus callosum (balkenartige Nervenfaserplatte, welche die beiden Großhirn-Hemisphären miteinander verbindet) feststellbar. Musikmachen stimuliere die „Anpassung des zentralen Nervensystems an komplexe Spezialanforderungen“. Üben und Musizieren fördere die Gewebe-Durchblutung, den Muskelaufbau, die „Neuroplastizität“, während sich der Abbau von Nervenzellen verringere.
Unter der Überschrift „Von der Musikschule ins Leben“ fasste Altenmüller sodann die „Transferleistungen“ zusammen, die musikalisches Tun begünstige, wobei er drei Leis­tungsfelder unterschied: Sprechfertigkeit („Nahtransfer“), mathematisches Denkvermögen („Ferntransfer“) sowie Konzentration, Ausdauer, Strategiebildung („sich durchbeißen“), Selbstvertrauen, Fähigkeit zu positiver Interaktion („indirekter Transfer“). Allerdings erhöhe Musizieren den IQ nur leicht.
„Effektiver als Krankengymnastik“, nannte Altenmüller das musikunterstützte Training (MUT) im Krankheitsfall, beispielsweise zur Therapie neurologischer Schäden bei Schlaganfall-Patienten. Abschließend warf er einen Blick auf die „musikalischen Leiden“ Studierender an der Musikhochschule Hannover: 25 Prozent klagten über Beschwerden, die das Studium behindern. 68 bis 88 Prozent litten mindestens einmal an einer Dystonie oder anderen Beeinträchtigungen. 45 Prozent nähmen medizinischen Rat und Hilfe in Anspruch.
Im anschließenden, eher unergiebigen Po­diumsgespräch warb Patricia Gläfcke, Geschäftsführerin des Landesmusikrats Hamburg, für eine „innovative Personalentwicklung“ in Betrieben, denen sie vorschlug, „corporate cultural officers“ einzustellen. Christoph Niehaus, Koordinator für Begabtenförderung der Claussen-Stiftung, hielt dem entgegen, Firmen würden nur dann in „Musik im Betrieb“ investieren, wenn sie unterm Strich zu Wettbewerbsvorteilen führe.

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