Syfuß, Enno

Musizieren wie von selbst?

Die Bedeutung von Automatisierungs­prozessen beim Musiklernen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2012 , Seite 47

Beim Musizieren und Musiklernen sind feinmotorische Fertigkeiten und deren Erwerb von eminenter Bedeutung. Auch wenn die Technik später im Dienste eines künstlerischen Ausdruckswillens stehen sollte, spielt ihre Aneignung zumindest phasenweise eine dominierende Rolle im Unterricht.

Wie lernt man eigentlich Fahrradfahren? Mei­ne zweijährige Tochter hat vor Kurzem das Laufrad für sich entdeckt und wackelt nun damit im Schneckentempo die Bürgersteige entlang. Besonders das Kurvenfahren bereitet dabei noch Probleme, und ich muss mir auf die Zunge beißen, ihr nicht eine „fachmännische“ Hilfestellung hinterherzurufen: „Wenn du eine Linkskurve fahren willst, darfst du nicht einfach den Lenker nach links bewegen. Du musst ihn vielmehr ganz kurz nach rechts drehen und, da du ­daraufhin nach links zu fallen drohst, die Schwerkraft dieses Fallens als Gegenkraft für die Fliehkraft deiner Linkskurve verwenden, die du erst jetzt durch Linkslenken einleitest!“
Die Lächerlichkeit einer solchen an ein Kleinkind gerichteten Erklärung ist offensichtlich; schließlich ist die Tatsache, dass man auf ­einem Fahrrad jede Kurve durch ein kurzes Lenken in die entgegengesetzte Richtung einleitet, schon für Erwachsene gar nicht so leicht zu verstehen. Nun, in ein paar Wochen wird meine Tochter sicher gelernt haben, mit ihrem kleinen Gefährt in hohem Tempo durch die Gegend zu flitzen. Dabei wird sie, wie die allermeisten Menschen, keineswegs wissen, wie das Kurvenfahren mit einem Zweirad funktioniert, und zudem noch nicht einmal wissen, dass sie es nicht weiß, aber sie wird es eben können. Besonders erstaunlich dabei ist, dass ihre Motorik diesen automatisierten Gegenlenk-Mechanismus auch auf andere Fahrradgrößen übertragen wird. Irgendwann fährt sie dann zur Geigenstunde und ihre Arme steuern den Lenker wie von Zauberhand, während sie sich in Gedanken eine Ausrede dafür zurechtlegt, dass sie in dieser Woche nicht viel geübt hat…

Musiklernen und ­Bewegungslernen

Zum Erlernen der Instrumental- oder Gesangstechnik reicht es nicht aus, dass eine Schülerin weiß, wie etwas geht: Sie muss es einfach üben, bis sie es kann. Das entscheidende Medium der Vermittlung im Unterricht ist dabei nicht allein die Erklärung, sondern auch das Vormachen des Lehrers. Ein wesentlicher Teil des Lernens vollzieht sich hierbei auf einem komplexen Zusammenspiel aus visueller Beobachtung, auditiver Wahrnehmung, imaginiertem Körpergefühl und Imitation, das auch eine unbewusste, somatische Ebene umfasst.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2012.