Röbke, Peter
Musizierendes Lernen
Das Ensemble als innovativer Lernort
Ein Lernen im Musizieren bzw. ein Musizieren, dem das Lernen inhärent ist: Die Grenzen zwischen Unterricht im engeren Sinn und Ensemblespiel werden durchlässig. Eine kurze Geschichte des „musizierenden Lernens“.
Ob in der Klavierschule 1-2-3 Klavier1 oder in ihren zahlreichen Beiträgen für üben & musizieren:2 Ulrike Wohlwender nahm als Repräsentantin eines Instruments, bei dem trotz der Vorarbeiten eines Peter Heilbut das Lernen in der Gruppe nicht unbedingt forciert wurde, nicht nur geeignete Inhalte sowie Aktionsräume und Spielformen für einen Gruppenunterricht am Klavier (bzw. besser mit zwei Klavieren) in den Blick, sondern entdeckte auch als bevorzugte Weise der Aneignung das „Musizierende Lernen“.
Dem gemeinsamen Musizieren in der Gruppe können Lerneffekte zugeschrieben werden, die über die offensichtlichen wie aufeinander hören, ein gemeinsames Tempo finden3 oder Intonation angleichen hinausgehen. Auch die Entwicklung instrumentaler Kompetenzen im Ensemblespiel ist ein Thema, wenngleich diese Entwicklung eher auf verborgenen Wegen erfolgt, mithin implizites oder auch nur beiläufiges Lernen darstellt und den eifrig miteinander Musizierenden vielleicht gar nicht bewusst ist. Das Ensemble, so kann man wohl sagen, ist ein eminenter und umfassender Lernort: Nicht nur unser Zusammenspiel und unsere Intonation werden besser, sondern auch meine eigenen instrumentalen Fertigkeiten und Fähigkeiten.
Das musizierende Lernen und der Beginn im Orchester: El Sistema
Simon Rattle pilgerte nach Caracas und sah in den venezolanischen Jugendorchestern die Zukunft der klassischen Musik. Nun kann man den universalistischen Anspruch der „western classical music“ durchaus hinterfragen, aber die Art und Weise, in der bei El Sistema die Kompetenzen etwa für die Ausführung der 4. Sinfonie Tschaikowskys, die als Lieblingsstück der Jugendlichen galt, entwickelt wurden, stellten umgekehrt europäische Vorstellungen von instrumentalem Lehren und Lernen auf den Kopf. Wenige Monate Rhythmustraining, Notenlesen, Spiel auf Pappgeigen – und dann der Sprung ins kalte Wasser der ersten Orchesterprobe. Der Start im Orchesterzusammenhang war nicht nur fehlenden Lehrkräften geschuldet, sondern vielmehr der Einsicht in die zutiefst motivierende Kraft eines Anfangs im musikalischen Ernstfall, eines Beginns in einer musikalischen Community of Practice, die NovizInnen von Anfang an das Gefühl vermittelte, MusikerInnen zu sein, und ihren Wunsch stimulierte, den Fortgeschrittenen nachzueifern.
El Sistema war eine Art Sputnik-Schock für die der europäischen Konservatoriumstradition verpflichteten InstrumentalpädagogInnen. Im Film The Promise of Music findet sich eine Sequenz, die in die Proben von drei sehr großen Kinderorchestern hinein zoomt:4 Im ersten, dessen Mitglieder offensichtlich erst vor Kurzem zu musizieren begonnen haben, versuchen sich diese als Streichorchester wild entschlossen und mit durchaus abenteuerlicher Spieltechnik an gemeinsamem Tonleiterspiel; beim mittleren Orchester erkennen wir Elgars noch etwas schleppend gespielten Pomp and Circumstance March No. 1 (also ein „richtiges“ Stück); und das am weitesten fortgeschrittene Orchester, nun ergänzt um Bläser und Schlagwerk, wogt in seinem leidenschaftlichen Musizieren wie ein Weizenfeld: unvergesslich das Lächeln auf dem Gesicht der jungen Konzertmeisterin des dritten Orchesters, das vom ungeheuren Stolz kündet, Teil eines solchen musikalischen Geschehens zu sein!
Wie JeKi in die Welt kam…
Eine interkontinentale Fernwirkung dieses Sputnik-Schocks war, wenn man den Erzählungen jener, die damals dabei waren, trauen darf, die Entstehung von JeKi. Der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers soll in einem Konzert des Simon Bolivar Jugendorchesters in einer Stadt in NRW seinem Staatssekretär zugeraunt haben: „Das können wir auch!“ Im Zusammenklang mit der Suche nach einer musikpädagogischen Maßnahme, die die europäische Kulturhauptstadt Ruhrgebiet des Jahres 2010 nachhaltig prägen sollte, und der Zuwendung einer anthroposophischen Bank für den Ankauf von Instrumenten kam „Jedem Kind ein Instrument“ in die Welt.
JeKi setzte nicht nur musikalische Partizipation in der Kooperation von Grund- und Musikschule auf die Tagesordnung, JeKi war nicht nur ein starker Motor für die empirische Musikpädagogik in Deutschland (13 Vorhaben in der wissenschaftlichen Begleitforschung5), JeKi hatte vielmehr auch das Potenzial, die gewohnten Praktiken der Musikschule und die Philosophie der Instrumentalpädagogik zu verändern.
Werfen wir als Prolog zunächst einen Blick auf „Jedem Kind seine Stimme“ (JEKISS) an der Westfälischen Schule für Musik Münster. Wie ich in einer mehrtägigen Fortbildung erfahren durfte: Nie ließ dessen Leiterin, Inga Mareile Reuther, den musikalischen Fluss abreißen. Ob stimmbildnerische Anweisungen, die Einstudierung der verschiedenen Teile des Liedes, der Gang in die Mehrstimmigkeit – alles passierte im Call and Response, durchweg unterlegt von der inspirierenden Klavierbegleitung Reuthers. Eine singbegleitende Gestik und die Bewegungen im Raum steigerten nicht nur die performative Qualität, sondern verdeutlichten auch formale Abläufe. Und am Ende hatten die SchülerInnen das Gefühl, eigentlich nur ununterbrochen gesungen zu haben, während die Lehrkraft insgeheim eine umfangreiche gesangspädagogische Agenda abgearbeitet hat.6
Gegenüber diesem inspirierenden Vorbild eines „lernenden Singens“ in Münster, also wenige Kilometer vom Ruhrgebiet entfernt, fiel JeKi in der ersten Phase erst einmal zurück. Zwar gab es ein erstes JeKi-Jahr, das sich an Prinzipien der Elementaren Musikpädagogik anlehnte und sich Zeit nahm, alle angebotenen Instrumente einzuführen (allerdings mit wenig Glanz, was deren Möglichkeiten anbelangte…). Dann aber bewegte man sich auf traditionellen Wegen: erst die Spieltechnik erwerben, dann mit Hilfe dieser gemeinsam musizieren. Und für die gestandene Musikschullehrkraft, die nun an Grundschulen im „bildungsfernen“ Dortmunder Norden „versetzt wurde“ und plötzlich mit Fünfer- oder Sechsergruppen zu tun hatte, stellte sich das Ganze eher als „IGP unter schlechten Bedingungen“ dar: Traditionelle instrumentale Unterweisung wurde durch die Gruppensituation erschwert. Unterstützung von Eltern für häusliches Üben war kaum zu erwarten.
1 Ehrenpreis, Claudia/Wohlwender, Ulrike: 1 2 3 Klavier. Klavierschule für 2-8 Hände, Wiesbaden 1995.
2 siehe z. B. Ehrenpreis, Claudia/Wohlwender, Ulrike: „Spielen mit musikalischen Bausteinen. Auswählen, Kombinieren, Variieren…“, in: üben & musizieren, 6/1998, S. 36-43.
3 vgl. auch Wohlwender, Ulrike: „Von Anfang an im Tempo. Ein Aspekt des Musizierenden Lernens“, in: üben & musizieren, 1/2003, S. 68-70.
4 siehe dazu „1/11 El Sistema – The Promise of Music Dokumentär + Konsert“, https://youtu.be/3iEnIhvjm3k, Minute 10:15 (Stand: 29.4.2025).
5 vgl. Koordinierungsstelle des BMBF-Forschungsschwerpunkts zu Jedem Kind ein Instrument (Hg.): Empirische Bildungsforschung zu Jedem Kind ein Instrument. Ergebnisse eines BMBF-Forschungsschwerpunkts zu den Aspekten Kooperation, Teilhabe und Teilnahme, Wirkung und Unterrichtsqualität, Bielefeld 2013.
6 vgl. Stadt Münster: „Jedem Kind seine Stimme (JEKISS)“, https://youtu.be/7nEsnfUK3ZM, Minute 04:45, (Stand: 29.4.2025); Reuther, Inga Mareille: JEKISS. Sing mit!, Konzeptband, Kassel 2011.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2025.