© Andreas Doerne

Doerne, Andreas

Musizieren(lernen) und Freiheit

Gedanken zum Wert des Emanzipatorischen in Kunst und Bildung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2019 , Seite 06

“Es ist in der Tat ein Wunder, dass die ­modernen Methoden der Ausbildung die heilige Neugier des Forschens noch nicht völlig erstickt haben, denn diese zarte ­kleine Pflanze bedarf – neben dem Ansporn – hauptsächlich der Freiheit; ohne diese geht sie ohne Zweifel zugrunde.” Albert Einstein

Freiheit ist sowohl für die Welt der Kunst als auch für Bildungsprozesse jeglicher Art von elementarer Bedeutung. Ohne Freiheit können sich Menschen nicht in autonomen Bildungsprozessen zu mündigen, selbstverantwortlichen Individuen entwickeln. Ohne Freiheit gäbe es keine Kunst jenseits von Tradi­tion, Überlieferung und kulturellem Erbe, keine künstlerische Innovation, die – zumindest in unserem westlich-abendländischen Kulturbereich – als wichtigster Motor für den nach wie vor wach­senden Reichtum an unterschiedlichsten künstlerischen Ausdrucksformen, Werken und Hervorbringungen ange­sehen werden muss. Insofern bildet Freiheit eine sowohl gedankliche als auch handlungs­bezogene Schnittmenge der beiden Kernbereiche instrumentalen Lernens.
Für mich lautet die zentrale Frage dabei nicht vorrangig, ob es im Musizierunterricht heutiger Tage noch bewusst eingesetzte Elemente von Unfreiheit und Zwang gibt, die es abzuschaffen gilt, sondern ob wir als Lehrende uns in jedem Augenblick mit aller Kraft dafür einsetzen, jene Freiheit, die ich im Folgenden darzulegen versuche, bei unseren Schülerinnen und Schülern und an dem von uns verantworteten Lernort aktiv zu befördern.

Kunst braucht Freiheit

Ein wichtiges Element jeder bedeutenden Kunst ist es, dass sich in ihr die Eigenheit, das Eigene, das Individuelle einer Künstlerin manifestiert. Bedeutende Kunst ist immer unverwechselbar. Und jede bedeutende Künst­lerin entwickelt im Laufe ihres Lebens so etwas wie eine eigene künstlerische Sprache, die ihr Schaffen vom Schaffen einer anderen Künstlerin unterscheidbar und als ihr Schaffen erkennbar macht. Hat man als Rezipient den Individualstil einer Künstlerin erst einmal wahrnehmend begriffen, kann man unbekannte Werke von ihr auf den ersten Blick als von ihr stammend erkennen.
Bei Musik reichen manchmal wenige Sekunden des Hörens aus, um entweder ein Stück als jenes Stück XY zu erkennen oder – falls unbekannt – die Urheberin mit ihrer unverwechselbaren kompositorischen Handschrift zu identifizieren. Ähnliches gilt auch für einflussreiche Interpreten. Meist haben sie deshalb Bedeutung in der Musikwelt erlangt, weil sie ihre ureigene Spielweise, ihren eigenen Sound entwickelt haben und jedes gespielte Stück mit einer hörbar individuellen Sichtweise jenseits von Klang-Klischees oder virtuos kaschierter Ideenlosigkeit versehen. So werden sie dem Anspruch eines qualitativen Mehrwerts von Interpretation im Unterschied zu bloßer Reproduktion gerecht – so kunsthandwerklich ansprechend Letztere auch sein mag.
Damit dieses Eigene entstehen kann, bedarf es als zent­raler Voraussetzung der Freiheit. Denn so, wie ein Zuviel an Führung meist in Abhängigkeit, Konformität und bloßem Kopieren mündet, kann echte Individualität nur auf dem Boden radikaler Freiheit erwachsen. Einer äußeren Freiheit, die nicht aus pädagogischen Erwägungen heraus begrenzt oder auf­grund allgemeinen Misstrauens eingeschränkt, sondern die bedingungslos und un­ge­teilt ist. Und einer inneren Freiheit, die ein Mensch braucht, um zu sich selbst zu finden, dazu, was ihn jenseits von vorgefertigten ­sozialen Rollen, kollektiv genormten Denkschablonen, gesellschaftlichen Moralvorstellungen und psychologischen Zwängen des Über-Ich als Individuum ausmacht. Denn wenn etwas an Kunst ansprechend ist, dann doch die Tatsache, dass Künstler und ihre Werke einmalig, unverwechselbar und durch nichts anderes zu ersetzen sind.
Bedeutende künstlerische Praxis hat etwas zu „sagen“, ermöglicht neue ästhetische Erfahrungen, rüttelt auf, macht uns aufmerksam und empfänglich, versetzt uns in ungewohnte Bewusstseinszustände, verändert unsere Beziehung zur Welt und unsere Sicht auf die Dinge.1 Künstlerisch etwas zu „sagen“ zu haben, setzt voraus, dass man sich eigene, tiefgehende Gedanken zu unterschiedlichen Kunstströmungen, zum gegenwärtigen Zustand der Welt und zu sich selbst macht und eigenständig nach persönlichen künstlerischen Ausdrucksweisen sucht. Dass das Eigene zum Großteil aus einer Auseinandersetzung mit dem Eigenen anderer Menschen resultiert, es somit immer auch eine Melange aus fremden Einflüssen, Adaptiertem, Übernommenem, Umgedeutetem und Neu-Kombiniertem darstellt, ist dabei kein Widerspruch. Im Gegenteil: Die Entwicklung des Eigenen braucht das fremde Eigene.
Nun könnte man meinen, das hier Gesagte gelte nur für die wenigen „großen“ Künstler, die entsprechend begabt und auf positive Art verrückt ihr Leben fast ausschließlich dem Aufbau und der Pflege ihrer Expertise gewidmet haben und deren Eigenes – ihre indivi­duelle klangliche Handschrift – sich als Folge dieser intensiven Beschäftigung quasi zwingend ergeben hat. Im Amateurbereich hingegen sei das Aufblühen des Eigenen aufgrund mangelnder Begabung und dem meist geringen zeitlichen Investment gar nicht zu erwarten, sondern man müsse schon froh sein, wenn Hobbymusiker überhaupt einen halbwegs annehmbaren Klang aus ihren Instrumenten herauszuholen im Stande sind. Dass sich in ihrem Spiel so etwas wie ein Individualstil zeigt, sei eine wirklichkeitsferne Überfrachtung instrumentalpädagogischer Arbeit mit unrealistischen Zielen.
Andersherum – und das ist mein persönlicher Standpunkt – kann man von der Hypothese ausgehen, dass sich Eigenes fast immer von selbst ergibt, wenn Entwicklungsdrang auf Freiheit beziehungsweise freiheitfördernde (Lern-)Umgebungen trifft. Ein Beispiel dafür ist das Sich-Ausbilden der eigenen Handschrift: Obwohl innerhalb einer Grundschulklasse alle Kinder auf dieselbe Art und Weise mit denselben Methoden und Medien das Schreiben beigebracht bekommen (und ihre Schrift­bilder sich aufgrund identischer Vermittlungsweisen zunächst sehr ähneln), bilden sie doch alle im Laufe der Jahre eine eigene unverwechselbare Handschrift aus, die nicht nur spezialisierte Grafologen, sondern jeder andere Mensch als solche Eigenheit erkennen kann. Und dies tun sie ganz von selbst, ohne dass jemand sie zu dieser Eigenheit „hinführt“.
Ist es nicht entsprechend auch vorstellbar, dass dieses Phänomen sich genauso auch im Musizieren als eigener Sound, als unverkennbares Klangsignum eines Individuums zeigt, so denn eine Entwicklung dorthin von Anfang des instrumentalen Lernprozesses an gutgeheißen, zumindest im weiteren Verlauf nicht durch klangnormierende und technikvereinheitlichende pädagogische Interven­tion unterdrückt wird? Könnte – anders als bei der Entwicklung der Handschrift – sowohl die bewusste Suche als auch das unbewusste Finden des eigenen unverwechselbaren Sounds nicht ein zentraler Inhalt auf allen Leistungsstufen des Musizierenlernens sein? Bejaht man diese Frage, wäre die Ermöglichung von Freiheit eine wichtige Voraussetzung dafür.

1 Mit Ausnahme literarischer Kunstformen ist dieses ­Sagen jedoch kein abstrakt-rationales Verbalisieren, sondern ein sinnlich-ästhetisches Zum-Erscheinen-­Bringen.


Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2019.