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Reinwand-Weiss, Vanessa-Isabelle

Mut, sich verändern zu lassen

Gesellschaftliche Transformationen als Motor für Innovation in der Kulturellen Bildung

Rubrik: Diskussion
erschienen in: üben & musizieren 3/2025 , Seite 44

Gesellschaftliche Transformationen sind kennzeichnend für den Beginn des 21. Jahrhunderts und stellen Felder Kultu­reller Bildung vor Herausforderungen. Wie aber lassen sie sich zugleich als Innovationsräume nutzen? Und in­wiefern haben ästhetische Praktiken selbst Transformationskraft?

Gesellschaftliche Transformationen passieren, wenn in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen grundlegende Wandlungsprozesse stattfinden, die sich wechselseitig beeinflussen und verstärken. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir mit mehreren solcher grundlegenden Wandlungsprozesse konfrontiert, die verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme – so auch die formale, non-formale und informelle Kulturelle Bildung – beeinflussen: (Post-) Digitalität, zunehmende Diversität und Heterogenität der Gesellschaft, Klimawandel, ökonomische Wandlungsprozesse, grundlegende demografische Veränderungsprozesse und der Wandel von Arbeitswelten.1
Im Folgenden sollen die Auswirkungen einiger Transformationsprozesse vor allem auf die non-formalen und informellen Felder Kultureller Bildung in aller Kürze skizziert werden. Dass die Veränderung dieser Felder allerdings nicht ohne den Blick auf die formalen Bildungsinstitutionen analysiert werden kann, wird schnell deutlich.

Gesellschaftliche Transformationen als Herausforderungen

Die Corona-Pandemie hat für viele Bildungsakteure wie Musikschulen, Jugendkunstschulen, Tanzschulen, soziokulturelle Zentren etc., aber auch für Kultureinrichtungen wie Theater, Konzerthäuser oder Museen deutlich spürbare Einschnitte in den Teilnehmendenzahlen an kulturellen und künstlerischen Angeboten gebracht. Immer noch währen die Bemühungen bei vielen Einrichtungen, die Zahlen der Vor-Pandemie-Zeiten zu erreichen.2
Kindern und Jugendlichen steht mit dem wachsenden Ausbau der Ganztagsschulen – ab 2026 gilt in allen Bundesländern der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung – ein umfangreiches Betreuungs- und Aktivitätsprogramm schulintern zur Verfügung, sodass kaum Interesse und Zeit für außerschulische Tätigkeiten bleibt. Hinzu kommen die steigenden Lebenskosten, die auch Bildungs- und Kulturanbieter dazu zwingen, die Gebühren für ihre Angebote anzuheben. Dadurch bleiben Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Elternhäusern non-formale Angebote nicht selten verschlossen.3 Zugleich herrscht vor allem bei Einrichtungen im ländlichen Raum Personalmangel. Jüngere Generationen von KulturvermittlerInnen sind nicht mehr bereit, mit einer sehr guten Ausbildung für extrem niedrige Gehälter und auf befristeten Verträgen zu arbeiten.
Die veränderten Zeitrhythmen und Ästhetiken, an welche Heranwachsende bereits früh durch Medien- und Social-Media-Konsum gewöhnt werden, führen nicht selten dazu, dass herkömmliche Angebote von Unterricht und Kursen nicht mehr ohne Weiteres auf Resonanz stoßen. Der informelle Bildungsbereich, der in pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Studien noch wenig erforscht ist, unterliegt ebenso einem grundlegenden Wandel. Die Dominanz der digitalen Medien hat auf der einen Seite kritische Auswirkungen auf das Bildungsverhalten von jungen Menschen wie eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne, utopische Vorstellungen einer künstlerischen Karriere oder einen hohen Grad an Ablenkung, bietet auf der anderen Seite allerdings auch reiche Lern- und Bildungsmöglichkeiten durch Tutorials oder andere Videoformate,4 die klassischen Bildungsanbietern Konkurrenz machen, aber auch Potenziale für diese bieten.

Aus Herausforderungen ­Innovationen machen

Grundsätzlich ist eine starke diskursive Auseinandersetzung der Felder non-formaler Bildung mit gesellschaftlichen Transformationen zu erkennen. Die einschlägigen Fachpublikationen und Tagungen beschäftigen sich mit Transformationsthemen wie etwa Künstliche Intelligenz (z. B. üben & musizieren 5/2024) oder Nachhaltigkeit (siehe demnächst üben & musizieren 5/2025). In der tatsächlichen Angebots- und Unterrichtspraxis allerdings sind noch zu wenig Anpassungen und Folgen dieser Entwicklungen auszumachen. Was heißt die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen konkret für mein kulturpädagogisches oder kulturvermittelndes Angebot? Welche informellen Praktiken von Kindern und Jugendlichen werden ausgeblendet bzw. nicht ausreichend mit meinem Angebot synchronisiert? Welche (Unterrichts-)Praktiken müssen be- und hinterfragt werden – und schließlich, welche neuen Allianzen braucht es?
So arbeiten viele kulturpädagogischen und Kultureinrichtungen beispielsweise bereits mit Schulen oder Kitas zusammen, aber von systematisch und strukturell vernetzten lokalen Bildungslandschaften sind wir in den meisten Kommunen noch weit entfernt. Äußere Bedingungen wie mangelnde Zeit- und Personalressourcen, rechtliche Hürden oder schlicht mangelnde Finanzierungsmöglichkeiten machen dies für einzelne, willige Akteure sehr herausfordernd bis unmöglich. Dabei besteht ein großes Potenzial in der Vernetzung formaler und non-formaler sowie informeller Bildungsbereiche, wie gelingende Ganztagsschulkonzepte zeigen.
Kulturelle Schulentwicklung kann ein Motor für ein teilhabeorientiertes und leiblich basiertes Lernen sein, das wir gerade im 21. Jahrhundert dringend brauchen. Kultureinrichtungen sind durch diese Vernetzung nah an ihrem Publikum für morgen und Kulturelle Bildung kommt auch Kindern aus bildungsfernen und/oder einkommensschwachen Familien zugute und sorgt damit für mehr Chancengerechtigkeit im Bildungswesen.
KulturvermittlerInnen haben oft in Kultureinrichtungen eine schwache Position und Veränderungen passieren daher gerade in großen Häusern sehr langsam, da sich Impulse der Vermittlung kaum durchsetzen können. Da, wo es non-formalen Kulturanbietern gelingt, als „Dritter Ort“ niedrigschwellig offen zu sein, findet ein gegenseitiges Lernen zwischen Kulturbetrieb, Vermittlung und Publikum statt. Die Interessen und Freizeitpraktiken der Kinder und Jugendlichen können z. B. über die Etablierung eines „Dritten Ortes“ direkt erfahren und mit dem eigenen Angebot verknüpft werden. Der Kulturort selbst profitiert von einer Öffnung und sofern Veränderungen im Programm, Personal, den Partnern und dem Publikum nicht verhindert werden, passieren diese „ganz nebenbei“. Informelle Lernprozesse können dann optimal begleitet werden. Logiken der Bewertung von Angeboten wie in den digitalen Medien üblich, andere Zeitrhythmen in der Auseinandersetzung mit ästhetischen Praxen, selbstbestimmtes Lernen und neue Ästhetiken können gemeinsam erfahren und das eigene Programm weiterentwickelt werden.

Die eigenen ästhetischen ­Praktiken ernst nehmen

Ästhetische Praktiken und deren Bildungsprinzipien besitzen – zumindest in der Theorie5 – eine inhärente Transformationskraft und damit ihr eigenes Innovationspotenzial. So unterscheiden sich kulturelle Bildungspraxen in Prinzipien wie Ganzheitlichkeit, Heterogenität, Selbstwirksamkeitserfahrungen, Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit, Anerkennung oder Freiwilligkeit nicht selten grundsätzlich von Bildungserfahrungen, wie sie in formalen Systemen häufig erlebt werden. Ästhetische Prinzipien wie Leiblichkeit, Enthusiasmus, Wahrnehmung der Wahrnehmung oder Ambiguität führen dazu, dass Kulturelle Bildung ihr volles Potenzial entfalten kann und beim Individuum Möglichkeiten der Förderung von Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Gestaltungskompetenzen, eigene Verantwortungsübernahme und Selbststeuerung sowie eine Einübung im Umgang mit Unsicherheiten und Ambivalenzen freisetzt. Dies sind bedeutsame Voraussetzungen für transformatives Lernen und eine gesellschaftliche Teilhabe durch Teilnahme.
Die eigene pädagogische und ästhetische Praxis ernst zu nehmen, ist also die wichtigste Bedingung für eine sich entfaltende Transformationskraft der eigenen Vermittlungsarbeit. Hierzu braucht es wache kulturelle Bildungsakteure, die den Mut haben, selbstbewusst die Stärken und das Transformationspotenzial ihrer Praxen immer wieder zu zeigen und sich optimistisch widerständig auch negativ empfundenen Folgen gesellschaftlicher Transformationsprozesse entgegenzustellen.

1 vgl. Reinwand-Weiss, Vanessa-Isabelle: „Kulturelle Bildung und gesellschaftliche Transformation. Eine Zustandsbeschreibung“, 2023, www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-gesellschaftliche-transformation-zustandsbeschreibung (Stand: 7.5.2025).
2 vgl. Tewes-Schünzel, Oliver/Allmanritter, Vera/ Renz, Thomas: Kulturelle Teilhabe in Berlin 2023. Alles wieder beim Alten? Kulturbesuche und künstlerisch-kreative Freizeitaktivitäten im Nach­gang von COVID-19, Berlin 2024.
3 Rat für Kulturelle Bildung (Hg.): Jugend/Kunst/ Erfahrung. Horizont 2015, Essen 2015.
4 siehe auch Rat für Kulturelle Bildung (Hg.): Jugend/YouTube/Kulturelle Bildung. Horizont 2019, Essen 2019.
5 Zu erinnern ist hier an die Forschungen zur transformatorischen Bildungstheorie von z. B. Winfried Marotzki oder Hans-Christoph Koller, die Bildung als Ergebnis der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen definieren, welche durch besondere Erfahrungen – und ästhetische Praxen sind hier prädestiniert – hervorgerufen werden können.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2025.

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