Ruhnke, Ulrich

Nachttropfendrache

Im Gespräch mit Knut Remond, dem Initiator und Betreiber des Berliner Geräuschladens „ohrenhoch“

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 3/2009 , Seite 44

Der Geräuschladen „ohrenhoch“ in Berlin-Neukölln ist ganz leer. Nichts, was das Auge ablenken könnte, ist in ihm zu finden, außer einem Lautsprecher, der nicht so aussieht, sondern an eine Mischung aus Ventilator und Hasenohren erinnert. Im Geräuschladen gilt’s dem Ohr – jeden Sonntag bei aktuellen Klanginstallationen und unter der Woche, wenn die „ohronauten“, eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, Klänge erforschen und dabei ihr eigenes Hören kennen lernen.Knut Remond, 1956 in Basel geboren, genoss eine Ausbildung bei David Johnson, er war langjähriger Assistent von Karlheinz Stockhausen und lernte Schlagzeug bei Siegfried Kutterer. Vor allem aber ist er überzeugter Autodidakt. Nach vielen Berufsjahren als Musiker, Texter und Regisseur in der Schweiz wechselte Knut Remond 2007 nach Berlin, wo er im Stadtteil Neukölln den Geräuschladen „ohrenhoch“ eröffnete.

Gemeinsam mit Kindern aus Berlin-Neukölln haben Sie die Klanginstallation „Nachttropfendrache“ entwickelt. Das „netzwerk junge ohren“ und die Landesanstalt für Medien NRW haben Ihnen hierfür den Sonderpreis für „Musik und Medien“ verliehen. Können Sie die Installation beschreiben?
Der „Nachttropfendrache“ ist ein Projekt, das sich aus einem akustischen und einem visuellen Teil zusammensetzt. Konkret handelt es sich um eine Transportkiste, aus der Geräusche ertönen, die von dem in der Kiste eingeschlossenen Nachttropfendrachen herrühren. Es handelt sich dabei um ein Tonband mit Lautsprechern. Als wir das Projekt vor Publikum vorgestellt haben, wurde die Kiste von einem Transportunternehmen hier im Geräuschladen „ohrenhoch“ angeliefert und in die Mitte des Raums gelegt. Zahlreiche Aufkleber auf der Kiste mit Städte- und Ländernamen vermittelten den Eindruck einer langen Reise um die Welt. Als die Kiste auf dem Boden lag, hörte man den Nachttropfendrachen, wie er kreucht und fleucht, wie er frisst, atmet, sich bewegt, auch spricht und Geräusche macht.

Was war die Idee des Projekts?
Es ging vor allem darum, die akustische Wahrnehmung der Kinder zu schärfen. Im Alltag sind die visuellen Eindrücke meistens dominant, das Akustische wird dagegen vergleichsweise nur nebenbei wahrgenommen. Und da war mein Gedanke, dass man sozusagen ein lebendiges Wesen entwickelt, das man nicht sieht, sondern nur hört und dadurch lernt, ganz genau hinzuhören und die Ohren „aufzustellen“. Das zweite war die Umsetzung. Dazu gehörte zum einen die Produktion des Tonbands, das dann in der Kiste in der Dauerschleife läuft und die Geräusche und Klänge enthält, die die Kinder zum Teil mit ganz gewöhnlichen Alltagsgegenständen wie Gläsern oder einem Eierschneider produziert haben. Und zum anderen die inhaltliche Auseinandersetzung, die mit dem ganzen Projekt und der Produktion des Tonbands verbunden ist: Wer oder was ist überhaupt ein Nachttropfendrache, warum befindet er sich in dieser Kiste, wovon lebt er, warum ist er so weit um die Welt gereist, wo ist eigentlich seine Heimat und so weiter. Wir haben hier eine ganze Geschichte um den Nachttropfendrachen entwickelt, die die Fantasie der Kinder, aber auch jene des Betrachters der Installation anregte.

Der „Nachttropfendrache“ ist ja ein regelrechtes Erfolgsmodell des Geräuschladens und hat viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ist daran gedacht, das Projekt weiterzuentwickeln und auszubauen? Wenn ja, wie könnte das aussehen?
Die „ohrenhoch“-Kids sind eingeladen, ein Hörspiel zu machen. Da bestünde die Möglichkeit, auch den „Nachttropfendrachen“ mit aufzunehmen und weiterzuentwickeln, z. B. dass er ausgesetzt wird in Neukölln, sich vermehrt und die Geschichte so irgendwie fortgesponnen wird. Aber das ist alles noch offen. Was ich bei der Arbeit mit den Kindern merke, ist, dass man die Sachen sehr spontan machen muss. Ich glaube, für sie ist der Nachttropfendrache einfach der Nachttropfendrache, so wie er jetzt ist – und nicht so sehr ein Projekt, an dem man nun weiterbastelt.

Gibt es einen Aspekt beim „Nachttropfendrachen“ oder überhaupt bei Ihrer Arbeit hier im Geräuschladen, von dem Sie sagen würden, dass genau hierin ein wesentlicher Unterschied zu anderen Musikvermittlungsprojekten besteht?
Wenn man sich die Entwicklung der Technologie, also jener Dinge, über die wir auch Akustisches und Visuelles erfahren, ansieht, so geschieht diese ja sehr schnell. Und irgendwie muss ich ja damit umgehen – ohne Vorurteile. Und da finde ich es wichtig, dass man zu dieser ganzen Multimedialität einen Zugang entwickelt, der zunächst einmal spielerisch ist. Dass man zugleich aber auch erkennt, was einen interessiert und was nicht und was man möchte und was nicht. Dass also erst einmal eine Sensibilität für Klänge und Musik geschaffen wird, genauso aber auch für ihre unterschiedlichen Ausprägungen. Wenn ein Kind dann auf der Basis dieser ersten Erfahrungen vielleicht entscheidet, es auch einmal mit einem klassischen Instrument zu probieren, freut mich das als Musiker und Komponist natürlich ganz besonders. Es ist aber ebenso in Ordnung, wenn das Interesse mehr in Richtung elektronische Klänge und Musik geht.

Wie funktioniert der Geräuschladen, was passiert hier?
Zum einen ist der Geräuschladen jeden Sonntag von 14 bis 21 Uhr geöffnet. Künstler, die ich einlade, präsentieren hier ihre Klanginstallationen, Leute, die draußen vorbeispazieren, kommen spontan herein, man spricht und unterhält sich, schult das Hören. In dem Sinne sind wir eine „Hörbar“. Und dann gibt es natürlich die wöchentlichen Treffen der „ohrenhoch“-Kids, mit denen wir gemeinsam Projekte entwickeln. Ich würde sagen, es sind auch wirklich mehr Projekte als Workshops. Einen Workshop macht man einen Monat oder vielleicht ein paar Wochen. So etwas wie der „Nachttropfendrache“ wäre unter diesen Voraussetzungen aber gar nicht möglich gewesen. Dafür braucht man eine größere Kontinuität, auch Vertrauen. Der Grundgedanke ist doch, mit einer Gruppe von Kindern über einen längeren Zeitraum Dinge zu machen, die das Gehör schulen und die Fantasie anregen – und nicht, in einem kurzen Workshop Wissen über Akustisches zu vermitteln.

Der Aufwand, den Sie für den Geräuschladen betreiben, ist nicht unerheblich, sowohl zeitlich als auch finanziell. Wie finanziert sich „ohrenhoch“?
Wir werden von der Initiative Neue Musik Berlin e. V. unterstützt. Das ist eine nach dem Mauerfall mit Unterstützung des Berliner Senats gegründete Initiative mit dem Ziel, die verschiedenen Strömungen und Unternehmungen der freien Szene im Bereich neuer Musik zu bündeln. Außerdem erfahren wir Unterstützung vom Unternehmen „Zapf Umzüge“, die uns z. B. beim Projekt „Nachttropfendrache“ tatkräftig unter die Arme gegriffen haben, indem sie etwa die Kiste gebaut und sie im Rahmen der Präsentation, die ja wie eine kleine Inszenierung angelegt war, angeliefert haben. Ein weiterer Sponsor von „ohrenhoch“ ist die Firma Thomann Musikhaus. Auch bekommen wir Hilfe vom Kulturamt Neukölln, weniger finanziell als vielmehr durch Weiterempfehlung und dadurch, dass es uns vernetzt und in Kontakt bringt mit Veranstaltern oder anderen Initiativen, die gut zu uns passen könnten. Auch das Kulturnetzwerk Neukölln e. V. unterstützt uns in ähnlicher Weise. Insgesamt arbeiten wir natürlich mit einem extrem niedrigen Budget.

Wie findet man als Kind oder Jugendlicher den Weg zum Geräuschladen?
Das funktioniert eigentlich durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Ich finde, das ist überhaupt ein ganz wichtiger Bestandteil eines Unterfangens wie des Geräuschladens, dass es sich herumspricht. Es braucht vielleicht ein bisschen Zeit, bis sich eine gute Idee etabliert hat, aber früher oder später gelingt es. Dass jetzt die Möglichkeit, für das Radio ein Hörspiel zu produzieren, an uns herangetragen wurde, sehe ich als weitere Stufe einer solchen Entwicklung. Andererseits muss man auch selbst aktiv werden und die Projekte bekannter machen, auch in der eigenen Stadt. In anderen Stadtteilen als Neukölln etwa wird man uns und unsere Arbeit wohl weniger kennen. Das ist schade, denn auch hier gibt es Kinder, die vielleicht gerne bei uns mitmachen würden.

Warum haben Sie sich ausgerechnet Neukölln als Standort für den Geräuschladen ausgesucht? Der Stadtteil ist nicht gerade bekannt für eine kulturaffine Bevölkerung, wo Kinder quasi nach bildungsbürgerlichem Muster eine frühe musikalische Sozialisierung erhalten.
Neukölln war Zufall. Viele Leute glauben, wir hätten uns den Stadtteil bewusst ausgesucht, weil wir dächten, dass hier viel Entwicklungspotenzial liege, oder weil wir gerade die Arbeit in einem Stadtteil mit hohem Migranten- und Arbeitslosenanteil gesucht hätten. Am ehesten hat es vielleicht noch damit zu tun, dass es hier so etwas wie eine Zwischennutzungs-Agentur gibt. Das sind Personen, die versuchen, Besitzer oder Vermieter von leer stehenden Räumen und Läden davon zu überzeugen, dass es besser ist, diese für einen guten Zweck zu einem günstigen Preis zu vermieten, als die Räume brachliegen zu lassen. Über diese Agentur sind wir zu dem Laden gekommen und so hat sich Schritt für Schritt alles Weitere ergeben.

Spüren Sie bei den Kindern, die hier regelmäßig herkommen, schon einen veränderten Umgang mit dem Hören und wenn ja, wie macht sich der bemerkbar?
Am Anfang des Projekts „Die Reise durch die elektrischen Geräuschgalaxien“ haben wir gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen Aufnahmen von Geräuschen aus ihrem Lebensumfeld gemacht: in der Wohnung, auf der Straße, auf dem Sportplatz und so weiter. Und allein dadurch haben sich die Kinder und Jugendlichen mit Klängen in einer Art und Weise auseinandergesetzt, wie sie es im alltäglich selbstverständlichen Umgang damit sonst nicht getan haben. Wenn sie jetzt z. B. im Radio ein zeitgenössisches Stück Musik oder auch Popmusik hören, haben sie schon einen ganz anderen Zugang dazu, können akustisch differenzierter wahrnehmen und haben vielleicht auch eher eine Vorstellung davon, wie und mit welcher Absicht bestimmte Töne produziert worden sind. Es ist für mich ganz wichtig, dass die Jungs und Mädchen nicht nur Zuhörerinnen und Zuhörer, also Konsumenten, sind, sondern immer aktiv mithören, genau hinhören und involviert sind in das, was akustisch auf sie einwirkt. Das finde ich ganz wichtig, dass es hier ein Bewusstsein für diesen akustischen „Informationskanal“ gibt. Und es hat natürlich auch etwas mit Eigenverantwortung zu tun, selbst unterscheiden zu können, kritikfähig zu sein. Genauso wie es etwas mit Eigenverantwortung zu tun hat, ein Projekt, wie es hier im Geräuschladen realisiert wird, von der ersten Idee bis zur konkreten Umsetzung zu entwickeln und zu betreuen.

Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht, wohin Sie die Kinder und Jugendlichen „abgeben“, wenn sie aus dem Geräuschladen herausgewachsen und nicht mehr als „ohronauten“ unterwegs sind, weil ihnen z. B. die Pubertät dazwischen kommt oder weil die Möglichkeiten des Geräuschladens ausgereizt sind? Wo und wie können die Dinge, die hier vielleicht grundgelegt worden sind, weiterentwickelt werden?
Also, ich würde sagen, dass es für die jetzige Gruppe erst einmal wichtig ist, beim Festival „48 Stunden Neukölln“ teilzunehmen. Daran haben sie schon im letzten Jahr teilgenommen und wollen es auch in diesem. Anschließend können sie dann entscheiden, ob sie weitermachen möchten oder nicht. Ich von meiner Seite aus könnte mir die Fortsetzung der Arbeit mit derselben Gruppe durchaus vorstellen. Es ist ja überhaupt ein wichtiger inhaltlicher Bestandteil des Geräuschladens, dass wir keine langen Vorausplanungen haben und uns dadurch ein hohes Maß an Flexibilität offen lassen. Vielleicht ist das eine Art Philosophie, die die Kinder auch haben und weshalb sie so gerne hierher kommen: sich Zeit und Raum lassen für Spontanes.

Denken Sie daran, Ihre Arbeit für Kooperationen mit Kindergärten und Schulen anzubieten und Ihre Projekte dort durchzuführen?
Ich finde es schon wichtig, dass es eine Einrichtung wie den Geräuschladen gibt und dass damit ein Ort geschaffen wurde, wo sich die Kinder und Jugendlichen außerhalb der Schule treffen können. Ich finde diesen Lehrbetrieb, so wie er gegenwärtig läuft, auch sehr problematisch. Da geht es oft nur darum, dass die Kinder soundso viel Stoff lernen, um später dieses oder jenes studieren oder arbeiten zu können. In einer solchen Schulatmosphäre, die ja immer noch etwas von Lernanstalt hat, sehe ich den Geräuschladen nicht. Vielmehr soll es doch so sein, dass die Kinder den Geräuschladen als ihr eigenes Reich betrachten, das außerhalb von öffentlichen Einrichtungen steht – und am ehesten vielleicht noch als eine Erweiterung ihres Zuhauses empfinden. Dass sie gerne hier sind, ist wichtig. Und dass die Gruppen klein sind, was in einem schulischen Zusammenhang im Grunde auch nie zu realisieren ist. Was ich mir aber vorstellen könnte, das wäre, den Gedanken eines Projekts wie z. B. des „Nachttropfendrachens“ in die Kindergärten und Schulen hineinzutragen, etwa in Form einer Präsentation, um damit eine Anregung an die Institutionen zu geben.

Der Geräuschladen war vornehmlich gegründet worden als experimenteller Ort, wo die verschiedenen Künste zusammengebracht werden sollen. So sind die Sonntage bis heute ja auch in erster Linie gestaltet. Jetzt machen Sie Furore mit Ihren Musikvermittlungsprojekten. Passt das eigentlich noch in Ihr Konzept? Ist das das, was Sie wollten?
Die Entwicklung des Geräuschladens, so wie sie sich im Moment abzeichnet, empfinde ich als völlig stimmig. Sicher war sie zu Beginn so nicht absehbar und sicher ist da auch viel Zufall dabei. Aber das passt ja zu unserem Grundgedanken der Improvisation, die zugleich immer ein bestimmtes Ziel hat: nämlich offen zu sein und die Ohren zu öffnen…

www.ohrenhoch.org

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2009.