Stibi, Sonja
Nähe schaffen
Innovative Ensemblepraxis zwischen Präsentation und Partizipation
Partizipative Konzerte im Fußballkäfig, Publikumsvoting in der Oper, ZuhörerInnen mitten im Orchester oder das Publikum als Komponist – viele Ensembles erachten es mittlerweile als notwendig, ihre Praxis zu erneuern und andere Wege der Darbietung von Musik zu finden, um für eine sich stetig verändernde Gesellschaft relevant zu bleiben.
Welche Begründungsfiguren für veränderte Aufführungskonzepte werden angeführt und welche Formen innovativer Ensemblepraxis lassen sich beschreiben? Der Beitrag geht diesen Fragen nach und beleuchtet ausgewählte Beispiele im deutschsprachigen Raum, die als Inspiration für eine Weiterentwicklung des Musiklebens sowie des Musiklehrens und -lernens dienen können.
Innovative Ensemblepraxis – weshalb?
Ansprüche einer pluralen Gesellschaft
Traditionelle Aufführungskonzepte werden angesichts der Ergebnisse von Kulturnutzer- und (Nicht-)BesucherInnenforschung1 zunehmend hinterfragt, da sie den Ansprüchen einer diversifizierten Gesellschaft2 nicht gerecht werden bzw. zu weit von kulturellen Interessen und Lebenswirklichkeiten vieler Menschen entfernt sind. Das (Stamm-)Publikum a priori gibt es nicht mehr. Wie aber können dann Zugänge zu westlich-klassischer Musik geschaffen werden, die neuartige und überraschende Musikerlebnisse ermöglichen, für ein breites Publikum relevant sind, Sinn und Wert erzeugen sowie Engagement im Sinne von Einbindung ermöglichen? Seit einigen Jahren steht daher das Publikum selbst im Fokus;3 Konzepte von Nähe, Partizipation und Resonanz sowie zielgruppenspezifische Formate gewinnen an Bedeutung.
Beziehungsgestaltung und Dramaturgie der Nähe
Jedes Ensemble muss sich mit jedem Format sein Publikum wortwörtlich „erspielen“. So geht es vermehrt darum, Beziehungen zum Publikum, zur Öffentlichkeit zu knüpfen und diese gemeinsam zu gestalten. Dialogische Prozesse, Möglichkeiten der aktiven Beteiligung, initiiert durch innovative Konzertdramaturgien, interaktive und partizipative Formate, sollen eine „Nähe unter den Beteiligten […] schaffen“ und werden zunehmend Bestandteil der Public-Relation-Strategien von Ensembles.4 „Nähe aufbauen“ leitet Martin Tröndle5 als Dispositiv aus seiner Nichtbesucherstudie ab und betont die Bedeutung von Rezeptionssituationen, die ein Konzertsetting und Ambiente schaffen, in dem sich das Publikum eingebunden und zugehörig fühlt. Lebensweltlich relevante Angebote, die die Gesamtheit eines Besuchs in den Blick nehmen, sind dabei ein entscheidender Faktor für Nähe und Identifikation.6
Resonanz: Gelingende Musikbeziehungen und starke Musikerlebnisse
Irena Müller-Brozovic versteht „das Konzert als Resonanzraum“7 und Musik „als soziale, kreative und kollaborative Praxis“,8 die von Ausführenden und Publikum in Wechselbeziehungen gemeinsam gestaltet und gedeutet wird. Ihrem Konzept einer resonanzaffinen Musikvermittlung, basierend auf Hartmut Rosas Resonanztheorie, liegen gelingende Musikbeziehungen und starke Musikerlebnisse als Kernelemente zugrunde. Resonanz unterliegt dabei bestimmten Gelingensbedingungen und kann sich in vier Dimensionen ereignen – „als Beziehung zu Musik, mit Musik, in Musik und durch Musik“9 –, die einander überlagern, aber jeweils unterschiedliche Formen „musikalischen Involviertseins“ begünstigen. Inspirierenden Interaktionen zwischen Musizierenden und Publikum kommt dabei eine entscheidende Rolle zu.
Anschlussfähigkeit und Relevanz, Nähe und Resonanz: Innovative Ensemblepraxis reflektiert diese Entwicklungen und eröffnet Räume für spannende Konzepte, die Beziehungen zwischen MusikerInnen und Publikum neu gestalten und dabei tradierte Aufführungspraxen gleichermaßen befragen wie erweitern.
Beispiele innovativer Ensemblepraxis
Der folgende Einblick in ausgewählte Formate aus dem Bereich klassischer Musik zeigt, an welchen Gestaltungsparametern sich innovative Ensemblepraxis orientiert. Dabei wird deutlich, dass sich die Beispiele oft mehrfach verorten lassen, da ein Gestaltungsaspekt den anderen bedingt.
Interaktion und Dialog im Konzert
Eine Strategie, um Nähe aufzubauen, ist die Integration von Interaktion und Dialog rund ums Konzert, die in Form von Gesprächskonzerten, Einführungen und Artist Talks, aber auch durch andere Formen der persönlichen Begegnung von MusikerInnen und Publikum realisiert werden. Das Ensemble Resonanz präsentiert in seiner Konzertreihe „resonanzen“ in der Elbphilharmonie progressive und experimentelle Interpretationen unterschiedlichster Werke. Begleitprogramme wie „hörstunde“ (Werk-Kontextualisierung) und „werkstatt“ (Proben-Einblicke) bieten Möglichkeiten für Begegnung, Austausch und vertiefte Musikerlebnisse. „urban string“ verbindet im Resonanzraum auf St. Pauli Kammermusik mit elektronischer Kunst. In „dein persönliches notfallkonzert“10 bietet das Orchester im Treppenhaus musikalische Zuwendung und Intimität in besonderer Form: Das Publikum reicht anonym kleine oder große „Notfälle“ ein, die durch klassische Werke oder Improvisationen musikalisch aufgefangen werden.
Neuartige Konzertsettings, Spielorte und Raumkonzepte
Spielorte abseits des Konzertsaals und Raumkonzepte, die versuchen, die vierte Wand zwischen Bühne und Publikum aufzulösen, sind ein wichtiges Element zeitgenössischer Konzertpraxis. Nähe wortwörtlich realisiert das vielfach kopierte Format „Mittendrin“ nach einer Idee von Iván Fischer: Das Publikum sitzt zwischen den MusikerInnen und erlebt die Musik aus nächster Nähe und Orchesterperspektive – eine Idee, die schon Iannis Xenakis vor 60 Jahren in seinem Werk Terretektorh für 88 im Raum verteilte Musiker vorwegnahm.
Neue Wege beschreitet das Orchester im Treppenhaus. In „Dark Room“ verbindet es Live-Hörspiel und Polit-Drama: Im Plenarsaal des Niedersächsischen Landtags lauscht das Publikum in völliger Dunkelheit einer Geschichte über Pressefreiheit und Demokratie, untermalt von Musik von Schostakowitsch, Say, Shaw und Schreker. „circling realities“ inszeniert den Raum mit Videoprojektionen, löst die Grenze zwischen Bühne und Publikum auf und ermöglicht freie Bewegung zwischen MusikerInnen, die ihre Positionen ständig ändern. Bei „trip x“ lotst eine App das Publikum zu geheimen Orten mit überraschendem Programm.11 In „I: Geschenkt! :I“ darf der Zuhörer oder die Zuhörerin das musikalische Mobil des Quartett Plus 1 betreten und erhält eine persönliche Face-to-Face-Performance nach Wahl.
1 vgl. Renz, Thomas/Allmanritter, Vera (Hg.): Besucher*innenforschung 2024. Herausforderungen, Zukunftsperspektiven und aktuelle Erkenntnisse des Besucher*innenforschungssystems KulMon® (= Schriftenreihe Besucher*innenforschung des Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung Nr. 2), www.iktf.berlin/wp-content/uploads/2024/03/IKTf-Sammelband-KulMon-2024.pdf (Stand: 17.4.2025).
2 vgl. Vertovec, Steven: „Super-diversity and its implications“, in: Ethnic and Racial Studies, Vol. 30, No. 6, 2007, S. 1024-1054.
3 vgl. Müller-Brozovic, Irena/Weber, Barbara Balba (Hg.): Das Konzertpublikum der Zukunft. Forschungsperspektiven, Praxisreflexionen und Verortungen im Spannungsfeld einer sich verändernden Gesellschaft, Bielefeld 2022, www.transcript-verlag.de/shopMedia/openaccess/pdf/oa9783839452769.pdf (Stand: 17.4.2025).
4 Müller-Brozovic, Irena: „Resonanzaffine Public Relations. Für eine Publikumsresonanz als interaktive und transformative Beziehungsform“, in: ebd., S. 55.
5 Tröndle, Martin (Hg.): Nicht-Besucherforschung. Audience Development für Kultureinrichtungen, Wiesbaden 2019, S. 115-120.
6 Mitunter liegt die „Dramaturgie der Nähe“ auch einem gesamten Festival zugrunde, wie bei den Montforter Zwischentönen, die sich „mit neuen Formaten zwischen Kunst, Alltagskultur und regionaler Entwicklung“ auseinandersetzen. Gögl, Hans-Joachim/Müller-Brozovic, Irena: „Eine Dramaturgie der Nähe. Zur Entwicklung neuer Konzertformate bei den Montforter Zwischentönen“, in: Müller-Brozovic/Weber, a. a. O., S. 67-76.
7 Müller-Brozovic, Irena: Das Konzert als Resonanzraum. Resonanzaffine Musikvermittlung durch intensives Erleben und Involviertsein, Bielefeld 2024, www.transcript-verlag.de/shopMedia/openaccess/pdf/oa9783839467602.pdf (Stand: 17.4.2025).
8 ebd., S. 21.
9 ebd., S. 303 (kursiv im Original).
10 https://youtu.be/OpNGeFY6WTs&t=124s (Stand: 17.4.2025).
11 Ein ähnliches Format hat die Bayerische Staatsoper mit Apollon Hidden im Programm.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2025.