Weber-Lucks, Theda
Neue Musik an der Musikschule?
Plädoyer für eine experimentelle Musikpraxis von Anfang an
Langgezogene Melodien, gespielt von zwei Sopranblockflöten mit leisen, fast gehauchten Trillern und reizvollen harmonischen Reibungen, erklingen im Raum. In Phasen der Stille werden Klangstäbe angeschlagen, die sich mit den Flötenklängen mischen. – Camilla und Mats spielen zusammen “Wüstentraum”: ein frei improvisiertes Stück, das durch Trillereffekte mit Viertel- und Halbtonschwebungen einen orientalischen Anstrich erhält.
Seit 2014 wird an der Leo Kestenberg Musikschule in Berlin (Tempelhof-Schöneberg) im Rahmen der Fachgruppe „Neue Musik. Neue Ton- und Klangkunst“ ein neues Unterrichts- und Veranstaltungskonzept unter meiner Leitung angeboten. Zunächst geht es dabei um Erfahrungen mit zeitgenössischer Musik, mit Klangkunst (Radiokunst), Performancekunst und experimentellem Musiktheater. Angesprochen sind musikalisch Interessierte aller Altersgruppen, Zuhörer und Musizierende egal welchen Niveaus, die Komposition, Interpretation, Improvisation und Klangexperiment in Form von Workshops, Kursen, Projektwochen, Klassenunterricht und Einzelstunden kennenlernen können. Wer in den instrumentalen Einzelunterricht mit der Ausrichtung „Experimentelles Musizieren“ kommt, erhält neben dem Instrumentalunterricht auch eine spielerische Einführung in Improvisation und Komposition.
Camilla und Mats, acht und neun Jahre alt, werden von mir auf diese Weise seit etwa zwei Jahren auf der Blockflöte als Hauptinstrument unterrichtet. Neben dem Lernen und Spielen von Noten und Liedern erhielten sie von Anfang an experimentellen Improvisations- und Kompositionsunterricht, bestehend aus zunächst sehr einfachen Übungen mit ausgewähltem Tonmaterial, die zugleich auf das aktuelle Lernziel (eigenständiges, ausdrucksvolles Spiel, Spieltechnik, Noten- und Repertoirekenntnis) zugeschnitten sind. Zusammen mit den SchülerInnen entstehen immer wieder neue Spiele, die alternierend auf der Flöte, aber auch am Klavier, mit Stimme oder auf Perkussionsinstrumenten gespielt und begleitet werden können.
Ich selbst verspürte als Zwanzigjährige oft Hilflosigkeit, wenn um mich herum JazzmusikerInnen improvisierten nach Konzepten, die mir unbekannt und rätselhaft waren. Das Gefühl der Unfähigkeit, mich nach 14 Jahren Musikunterricht dort einzuklinken, die daraus resultierende, viele Jahre fortbestehende Scheu, es auch nur zu versuchen, sowie das Gefühl der Abhängigkeit vom Notenspiel wurden für mich zur Motivation, einen anderen Weg des Unterrichtens zu suchen und zu gehen. Ich wünsche meinen SchülerInnen, dass sie ihr Instrument angstfrei und wie selbstverständlich spielen, dass sie wissen, dass zu jeder Form des Musikmachens auch Konventionen, gemeinsame Absprachen gehören, die sich erlernen und manchmal auch erraten lassen. Ein Weg dorthin liegt in der experimentellen Improvisation nach immer wieder anderen Regeln und Konzepten.
Keine Musik ohne Experimentieren
Manchmal kommt Mats in die Stunde, setzt sich hin, holt seine Flöte raus und spielt drauf los; klar, dass er damit einen „emotionalen Druck“ ausagiert. Er verschmilzt dabei förmlich mit seinem Instrument. Ich höre ihm zu und möchte sein Spiel aufgreifen. Doch wie gehe ich damit um? Wie halte ich den Moment seines Einsseins mit dem Klang und dem Instrument offen? Wie wecke ich von hier ausgehend seine Lust auf neue Klangerlebnisse und führe ihn musikalisch weiter? Wie lassen sich die Möglichkeiten experimentellen Musizierens von Anfang an mit dem traditionellen Instrumentalunterricht verbinden und produktiv aufeinander beziehen?
Eine erste Antwort liegt auf der Hand: Lebendig erzeugte Musik braucht Experimentierfreude und Lust zur Improvisation. Das Komponieren lebt davon, auch die Interpretation. Es weckt die musikalische Kreativität, bereichert die Hörerfahrung und das eigene Spiel, wenn
a priori frei mit einem gegebenen Klangmaterial gespielt, geforscht und experimentiert werden kann. Eventuell wird eine so entstehende Improvisation zum flüchtigen Moment, der z. B. das Gespür für tonale oder rhythmische Gestalten, formbildende Elemente und harmonische Verhältnisse verfeinern kann. Eventuell wird sie als Ausgangspunkt einer Komposition grafisch oder mit Noten fixiert für weitere Ausarbeitungen bereitgestellt. Diesen Weg mit den SchülerInnen Schritt für Schritt immer wieder neu und anders zu vollziehen, bedeutet per se, ihre musikalische Neugier zu wecken, nachhaltig zu stimulieren und ein vertieftes Musikverstehen zu befördern.
Bei Mats ging es im weiteren Unterrichtsverlauf darum, einzelne Elemente seines Spiels bewusster zu machen, ohne ihn aus seiner Grundstimmung auszuhebeln, etwa durch die Erweiterung zum Duo auf der Basis von Imitation und Variation, durch das anschließende gemeinsame Betrachten und Analysieren des verwendeten Klangmaterials (Skalen, rhythmische Werte) und das Heraussuchen und Spielen ähnlicher Stücke aus der uns vorliegenden Musikliteratur.
Erfahrungen aus der Praxis
Im Folgenden ein paar exemplarische Übungen und Erfahrungen aus meiner Arbeit, die zeigen, wie die Bereiche des experimentellen und traditionellen Unterrichtens sinnvoll füreinander aufgeschlossen und in Beziehung gesetzt werden können.
Ein Ton ist ein Ton ist ein Ton ist ein Ton
Die traditionelle Gehörbildung trainiert die Wahrnehmung von Tonhöhenunterschieden und Zusammenklängen und drückt dies in Zahlenverhältnissen aus (Prim, Sekunde, Terz etc.) oder im Sinne der funktionalen Harmonik (Tonika, Dominante, Subdominante etc.). Die experimentelle Musik im Verständnis von Cage, Schnebel, Kagel u. a. jedoch lehrt zu lauschen. Höre dir selbst und den anderen zu. Ein Ton ist nicht nur ein Ton, er ist viel mehr als das. „Ein Ton ist ein Ton ist ein Ton ist ein Ton“: In Anspielung auf ein Gedicht von Gertrude Stein1 wird durch die viermalige Selbstreferenz des Bezeichneten („Ton“) ein Oszillieren zwischen Subjekt und Objekt in Gang gesetzt, wodurch das Zeichenhafte und Konstruierte von Sprache hervortritt. Durch den dabei vollzogenen Perspektivwechsel löst sich das Bezeichnete als Imago oder Vorgestelltes von seinem Zeichen ab und das geradezu absurd Affirmative der Aussage (im Falle Gertrude Steins: „Rose is a rose is a rose is a rose“) erscheint in Frage gestellt: Was ist wirklich eine Rose, was ein Ton? Wer weiß das schon?
Streng genommen ist ein Ton lediglich in seiner Höhe, also seiner Frequenz fixiert, nicht jedoch in seiner Lautstärke (Amplitude), seiner Dauer, seiner Klangfarbe, seiner Textur, seiner Dynamik. Hier liegt eine ganze Welt geräuschhafter, schriller, rauer oder heiserer, klangvoller, weicher, schwingender oder glänzender Vibrationen. Je differenzierter die hörende Wahrnehmung des Musizierenden ausgebildet ist, umso weiter kann er in die innere Welt des Klangs einsteigen und umso intensiver wird er auch die Klangwelt anderer wahrnehmen und sich auf sie einlassen können. Indische Ragas arbeiten damit seit Urzeiten, Dieter Schnebels erste Komposition bestand darin, die Grenzen des Tons auszuweiten und sein Innenleben zu entfalten.
1 „Rose is a rose is a rose is a rose“ ist eine Phrase aus dem Gedicht Sacred Emily (1922) von Gertrude Stein, ein Schlüsselgedicht der Avantgarde.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2017.