© M. Smyczek

Weuthen, Kerstin

Neue Räume entdecken

Ein Gespräch über Andreas Doernes Buch „Musikschule neu ­erfinden“

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2020 , Seite 10

Als Leiterin der Musik- und Kunst­schule Duisburg setze ich mich wöchentlich mit drei Fachbereichs­leitern zu einer Teamsitzung zusammen, um über Fragen des operativen Gesche­hens zu beraten. Im Zentrum stehen dabei neben ­tagesaktuellen Punkten hauptsächlich Fragen und Ideen zur Organisations­entwicklung: Welches pädagogische Konzept wollen wir dem Unterricht zugrunde legen? Wie wollen wir miteinander kommunizieren? Was sind unsere Wünsche für das Musikschulgebäude und die Musikschulverwaltung? Um neue Impulse aufzunehmen, haben wir das Buch „Musikschule neu ­erfinden“ von Andreas Doerne gemeinsam reflektiert.

In seinem Buch entfaltet Doerne das Konzept eines Musizierlernhauses, das er sowohl architektonisch als auch konzeptionell sehr genau beschreibt.1 Unser Gespräch thematisiert die Chancen und Grenzen, die dieses Konzept für unsere Arbeit an der Duisburger Musik- und Kunstschule aufzeigt. Das folgende Gesprächsprotokoll ermöglicht einen lebendigen Einblick in unser Denken und Arbeiten.

Musikschule: zutiefst demokratisch

Kerstin Weuthen: Jetzt haben wir alle in den letzten Wochen das Buch Musikschule neu erfinden von Andreas Doerne gelesen und wollen uns heute darüber unterhalten, was davon wir als besonders innovativ oder inspirierend erlebt haben, was wir eher kritisch sehen und was wir ganz konkret bei uns in Duisburg umsetzen könnten.
Jörg Falk: Ich fand das ein sehr schönes Buch: sehr faszinierend, sehr mutig und sehr fundiert. Zwei Aspekte haben mich dabei zutiefst fasziniert. Einer davon ist die Bestätigung meines Gefühls, was schon längst zusammengehört: Das ist das Zusammengehören von populärer und klassischer Musik und wie befruchtend der Umgang mit diesen stilistischen Momenten sein kann. Also das Improvisatorische, was in der Popularmusik immer schon dazugehört, dass man Stücke raus­hört, dass man sie arrangiert, dass man sie nimmt und auf den Schüler passend bearbeitet. Mit dem Schüler zusammen – das ist eine zutiefst demokratische und individuelle Sache. Das fehlt in der Klassik leider oft völlig. Und der zweite Punkt ist natürlich die bau­liche Geschichte: Ein so konzipierter mensch­licher, musikalischer Musikschulbau, der diese Möglichkeiten eröffnet, ist wirklich ein toller Traum!
Richard Reddemann: Der erste Eindruck war schon ein bisschen revolutionär, muss ich sagen. Wobei auch nicht so ganz: Vieles davon habe ich im Kleinen schon erlebt. Zum Beispiel die Ensemblewochen:2 Da haben wir uns ja strukturell tatsächlich schon sehr frei bewegt! Wir haben den Stundenplan umgestrickt, die Kinder hatten mehrfach in der Woche die Möglichkeit, zum Unterricht zu kommen, Kolleginnen und Kollegen haben teilweise zusammen unterrichtet. Die Musikschule brummte in diesen vier Wochen wie ein Bienenkasten. In dem Sinne war das schon ein offenes Lernhaus.
Christian Schotenröhr: Ich habe dieses Buch begonnen zu lesen und fühlte mich die erste Zeit ziemlich provoziert. Ich kam in so einen inneren Selbstverteidigungsmodus hinein, der mich dazu brachte zu sagen: „Das machen wir doch schon!“ Ich bin dann aber mit meiner Nase an der Fährte geblieben wie ein Hund und dann hat mich mehr und mehr die Dramaturgie des Buchs fasziniert, weil alles weiter konkretisiert wird. Und in vielen Aussagen fand ich das Buch extrem stark. Zum Beispiel fand ich die Aussagen über den Zusammenhang zwischen Demokratieentwicklung und Pädagogik unglaublich stark, das zieht sich ja durchs ganze Buch durch.
Kerstin Weuthen: Was ich mich beim Lesen die ganze Zeit gefragt habe, ist, wie wir hier Rahmenbedingungen schaffen können, die ein Lehren und Lernen in diesem Sinne noch viel mehr fördern und ermöglichen. Dazu gehört für mich ganz grundsätzlich, den Anspruch an das Menschenbild, das Doerne hier entwirft, auch auf unsere Arbeit mit unserem Kollegium zu übertragen. Damit unsere Kolleginnen und Kollegen ihre Schüler bei selbstwirksamen Bildungsprozessen unterstützen können, müssen sie ihre eigene Arbeit eben auch auf der Grundlage von Selbstwirksamkeit gestalten können. Und das heißt, von Leitungsseite aus muss das Vertrauen da sein. Wenn wir Musizieren-Lernen als den gemeinschaftlichen Umgang mit Musik verstehen, dürfen wir deren Vermittlung nicht zu stark beregeln.
Richard Reddemann: Mein Lieblingssatz im Buch ist: „Die Lehrenden können sich gemäß ihrer individuellen Stärken und Interessen auf unterschiedlichste Art und Weise künstlerisch-pädagogisch im Musizierlernhaus ein­bringen. Das Feld an Unterrichtstätigkeiten von Lehrenden ist potenziell unbegrenzt.“3 Das finde ich einen sehr guten Satz, da würde ich mich echt wiederfinden und mich zugleich nochmals neu erfinden wollen.

Unteilbarkeit der Aufmerksamkeit

Jörg Falk: Solche Visionen bergen aber immer auch Gefahren. Es gibt durchaus Kritikpunkte oder Aspekte, die in der traditionellen Musikvermittlung ja so schlecht nicht sind. Im Gegenzug kann man auch fragen: Was ist denn an der traditionellen Musikschule bisher Alleinstellungsmerkmal und besonders gut? Für mich gehört dazu die enge Bindung eines Lehrers und eines Schülers. Die ist einzigartig. Die ganzen Gruppen, in denen Schülerinnen und Schüler sich sonst bewegen, werden eigentlich immer größer.
Christian Schotenröhr: Ich glaube, das streiten die hier ja nicht ab. Wenn man diese Entwürfe sieht, gibt es von der Architektur her genauso die Möglichkeiten, offene Übeflächen zu haben, aber auch immer noch die einzelnen Unterrichtsräume. Das war auch so ein Problem, das ich beim Lesen erst hatte: Ich muss als Musiker immer auch die Möglichkeit und das Recht auf Individualität und die Unteilbarkeit meiner Aufmerksamkeit haben. Da halte ich es für etwas problematisch, wenn ich beispielsweise in so einer Silent Arena4 übe und jemand übt neben mir Schlagzeug. Ich könnte mir vorstellen, dass ich dann ständig optisch abgelenkt werde von dem, was ich eigentlich gerade machen möchte. Das wäre für mich störend.
Kerstin Weuthen: Der Einzelunterricht ist im Musizierlernhaus, glaube ich, tatsächlich vor­gesehen. Das sieht man ja auch an den Flat­rates, die man in der Gebührenordnung der Pilot-Musikschule buchen kann.5 Aber dadurch, dass man das immer individuell vereinbaren kann, ist es natürlich schon unverbindlicher. Und dann könnte man als Schü­lerin zum Beispiel denken: „Och nee, diese Woche hab ich nicht geübt, dann buche ich lieber keine Einzelstunde.“ Und dabei erleben wir in unserem Alltag ja eigentlich oft, dass es gerade solche Stunden sind, die total positiv verlaufen und ein Durchbruch sein können.

Neue Räume entdecken

Christian Schotenröhr: Natürlich müssen wir uns da überlegen: Was bedeutet so ein freies Konzept bei 6500 Schülerinnen und Schülern? Also wie könnte ich so eine Idee bei uns umsetzen? Was bedeutet das für unser Standing gegenüber dem Programm „JeKits“, ­wäre das mit diesen Ideen logistisch und konzeptionell vereinbar? Und dann ist da die Frage wieder: Was will eine Musikschule überhaupt? Das müssten wir, finde ich, auch definieren.
Kerstin Weuthen: Darüber haben wir ja schon beim letzten Meeting gesprochen, dass einiges, was zunächst traditionell scheint, auch große Vorteile hat. Und als Neuling hier in Duisburg finde ich sowieso, dass ganz viel an innovativen Lehrmethoden und Konzepten bereits hier ist. Das könnten wir weiter ausarbeiten und neue Räume und Rahmenbedingungen dafür schaffen. Eine Vision wäre für mich zum Beispiel, am Ende eines solchen Entwicklungsprozesses irgendwann einen Fachbereich zu haben, der instrumentenübergreifend frei arbeiten kann.
Richard Reddemann: Wenn du tatsächlich mit einem Haus wie unserem in so einen Veränderungsprozess gehen möchtest, dann kannst du das eigentlich nur in kleinen Schritten machen. Und kleine Schritte führen dann zu größeren Schritten. Wenn ich das jetzt voranzutreiben hätte, würde ich mir zunächst mal die Frage stellen, wen vom Kollegium man direkt von Anfang an ins Team holt. Also so etwas braucht neugierige Menschen und welche, die wirklich Spaß daran haben. Das sollte nicht von oben auferlegt werden. Wir haben das damals am Beispiel von „JeKi“ gesehen: Plötzlich mussten alle dieses Programm machen. Das war ja das zutiefst frustrierende Beispiel, wie man es nicht machen sollte.
Jörg Falk: Ich glaube der erste Schritt muss sogar noch etwas früher beginnen. Wir müssen erstmal auch tatsächlich – so blöd das klingt – Zeiträume schaffen. Wir müssen neue Räume entdecken, in denen wir so etwas tun können. Dazu gehören für mich zum Beispiel die Ferien. Wann haben unsere Schüler und auch die Kollegen eigentlich noch Zeit? Da sind die Stellschrauben schon sehr fest gedreht. Die Freiräume sind eigentlich auf allen Seiten nicht mehr da. Da wären Workshops, die wir in den Ferien anbieten könnten, für alle eine Erleichterung und für uns ein Labor, in dem wir solche neuen Konzepte erproben könnten.
Christian Schotenröhr: Ich würde gern noch mit euch darüber sprechen, wie ihr das empfindet: Ist der Titel dieses Buchs eigentlich korrekt? Ist das eine Neuerfindung von Musikschule oder ist es eher eine Neugestaltung? Ich würde nämlich nicht sagen, dass der Autor Musikschule neu erfindet. Im Grunde führt er das zusammen, was ihm (vermutlich aus seiner eigenen Bildungsbiografie heraus) als wichtig erschien. Und ich glaube, das deckt sich mit dem meisten, was wir vier hier auch bereits erfahren haben und künftig wollen.

Neues Denken

Jörg Falk: Der beste Ansatz für uns wäre wahrscheinlich, wenn wir alle irgendwie doch die gleiche Idee von einer Musikschule hätten. Das wäre der Funke, der alles zusammen­hält und alle auch über den Tellerrand hinausgucken lässt. Wo ist der gemeinsame Nenner? Wir hatten nie die Definition einer gemeinsamen Musikschule in der Vergangenheit, noch nicht mal annähernd. Es waren immer nur Teilaspekte, die mehr oder weniger sinnvoll aus akutem Anlass in den Vordergrund gerückt worden sind.
Kerstin Weuthen: Was mir für mein Nachdenken besonders geholfen hat und uns vielleicht auch auf dem Weg zu diesem gemeinsamen Nenner weiterbringen könnte, waren die Fragen am Ende der einzelnen Bausteine. Das fände ich für uns sehr anregend, wenn wir das in unsere konzeptionelle Arbeit in diesem Schuljahr miteinbeziehen würden. Diese und andere Fragen in groß aufschreiben und hier im Büro an die Wand hängen. Dann können wir immer wieder, ohne direkt konkrete Antworten zu haben, gemeinsam darüber nachdenken. Das könnte uns sehr dabei helfen, wirklich etwas neu zu denken im Sinne von „Thinking outside the box“.
Christian Schotenröhr: Wir sollten sowas wie heute viel öfter machen! Uns regelmäßig Zeit dafür nehmen, gemeinsam in den Austausch über neue Konzepte zu gehen und sich dran zu reiben. Denn wenn wir schon nur uns vier sehen, hat wahrscheinlich jeder ein anderes Buch gelesen, weil das jeder aus seiner Sicht liest und aufnimmt. Jetzt eure Punkte zu hören und das im Gespräch zu reflektieren, öffnet uns allen den Blick und lässt uns bestimmt ein größeres Bild sehen und künftig noch flexibler denken und handeln.

1 Andreas Doerne: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019.
2 Die Ensemblewochen finden in Duisburg alle zwei Jahre statt. Vier Wochen lang wird der reguläre Stundenplan durch freie Projektarbeit in bestehenden oder hierfür neu gegründeten Ensembles ersetzt. Drei große gemeinsame Konzerte runden die Phase ab.
3 Doerne, S. 64.
4 „Die Silent Arena ist eine große, offene […] Fläche, auf der verschiedene Silent-Instrumente zum freien Gebrauch bereitstehen. […] Im Zentrum des Musizierlernhauses verortet, ist die Silent Arena somit zentraler Übe-Ort, Unterrichtsplatz, informeller Lernraum und musizierpraktisches Austauschforum in einem.“ Doerne, S. 22.
5 In der im Buch beschriebenen Musikschule Waldkirch sieht die Gebührenordnung ein System vor, das einer Nutzer-Flatrate ähnelt. Je nach individuellen Wünschen können die BesucherInnen der Musikschule einen Tarif wählen, der das für sie passende Angebot beinhaltet. Siehe Doerne, S. 210 f.

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