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Rommel, Constanze / Judith Rommel

Neurodiversität in der Musikpädagogik

Ideen zur Gestaltung neuroinklusiver Lernumgebungen

Rubrik: Diskussion
erschienen in: üben & musizieren 2/2025 , Seite 38

Musikunterricht ist so vielfältig wie die Menschen, die ihn erleben. Neurodivergente Menschen bringen besondere Begabungen und Bedürfnisse in den Unterricht. Dieser Artikel beleuchtet unter Einbezug von Zitaten von SchülerInnen, Studierenden und KollegInnen aus unserem persönlichen Umfeld, welchen Einfluss Neurodiversität auf das musikbezogene Lernen und Lehren hat, wie Barrieren abgebaut werden können und welche Chancen sich ergeben.

Neurodiversität bezeichnet neurokognitive Vielfalt, also dass menschliche Gehirn- und Nervensysteme Informationen unterschiedlich verarbeiten. Von Neurodiversität spricht man dann, wenn in einer Gruppe mindestens eine Person neurodivergent ist.1 Neurodivergente (man sagt auch neuroatypische) Menschen nehmen die Welt und Sinnesreize auf andere Weise wahr als neurotypische Personen. Zu den Neuroaty­pien zählen z. B. ADHS, Autismus, Dyskalkulie, Legasthenie, Synästhesie und Hochbegabung. Insgesamt lebt etwa jede fünfte Person in Deutschland mit irgendeiner Form von Neurodivergenz.2
Man sagt, Musik sei eine universelle Sprache, die über Kulturen, Generationen und individuelle Unterschiede hinweg verbindet. Klar ist jedoch: So universell die Wirkung von und Kommunikation mit Musik auch sein mag, musikbezogenes Lernen und Lehren braucht – nicht nur in Gruppen – individuelle Ansätze und unterschiedliche Vorgehensweisen für die Vielfalt der Beteiligten. Diese Vielfalt neurodivergenter Gruppen bereichert musik­bezogene Lern- und Produktionsprozesse, denn sie kann kreative Lösungsansätze und außergewöhnliche Zugänge zum Klang­erleben eröffnen.

Neurodiversität: Heraus­forderungen und Chancen

Neuronale Unterschiede in der Informa­tionsverarbeitung beeinflussen Lehr-Lern-Prozesse, da zum Lernen die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen gehört. Manche Menschen reagieren sehr empfindlich auf Umweltreize wie Geräusche, Gerüche, Berührungen, Farben oder elektromagnetische Felder (z. B. Licht), andere haben eine eingeschränkte Wahrnehmung. Diese Vielfalt beeinflusst, wie Musik wahrgenommen und gelernt wird, und erfordert individuelle Ansätze. Herausforderungen können in Bereichen wie Konzent­ration, Kommunikation (z. B. Schwierigkeiten, Mimik und Körpersprache zu deuten), Motorik, Zielrichtung des eigenen Verhaltens oder der Vorstellungsfähigkeit von Emotionen und Bildern liegen.
Neurodivergenz äußert sich auch in besonderen Stärken wie etwa Kopplung von Sinnesmodalitäten (Synästhesie) sowie hoher Lerngeschwindigkeit. Diese einzigartigen Fähigkeiten können den Musizierunterricht bereichern und Möglichkeiten bieten, neue Zugänge zu Musik und deren Interpretation zu entdecken. Die Kreativität und die oft unkonventionellen Ansätze neurodivergenter Menschen können inspirieren und innovative Dynamiken in Lerngruppen bringen.

Perspektiven aus der Praxis

Beim Musizieren treffen Menschen aller Altersgruppen und Niveaustufen aufeinander. Bereits dies verlangt von Lehrenden ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit hinsichtlich der Lehr- und Lernwege. Die Teilnahme von neurodivergenten Lernenden verstärkt dies. Daher sollte „Neuro­inklusiver Musikunterricht vielfältige Lernstile ansprechen, barrierefreie Inhalte bieten und individuelle Anpassungen erlauben“ (Franka, 20-jährige Studentin mit Asperger-Autismus). Barrierefreiheit meint hier, verschiedene Bedürfnisse zu berücksichtigen und diesen durch entsprechende Maßnahmen gerecht zu werden.

Lernumgebung neuroinklusiv gestalten

Strömen zu viele Reize und Informationen auf neurodivergente Menschen ein, kann die Überforderung zu schweigendem Rückzug oder auch zu aggressivem Verhalten führen und damit den Lehr-Lern-Prozess stoppen. So kann z. B. schon Applaus oder eine alltägliche Probensituation zu laut sein. „Ich finde es besser, wenn es beim Proben ruhiger ist und ich selbst entscheiden kann, ob ich in der Bläsergruppe bleibe oder lieber meine Kopfhörer aufsetze“, so Liam, 11 Jahre, Posaunenschüler und Autist. Wichtig ist, ruhige, reizarme Räume oder Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen. Bei Bedarf helfen Kopfhörer sowie individuell abgesprochene Pausen. Von einer solchen ruhigen Umgebung profitieren in einem Gruppen-Setting alle TeilnehmerInnen und besonders Menschen mit eingeschränkter Hörfähigkeit: „Mir ist wichtig, Stimmen direkt zu hören und nicht so viel Hall im Raum zu haben. In ruhigen Stimmproben kann ich leichter lernen. Bei weniger Nebengeräuschen fühle ich mich eher als Teil der Gemeinschaft“, so Gudrun, 45, Chorsängerin und Trägerin eines Hörgeräts.
Bei Geruchsempfindlichkeit können unter Belastung die Atemwege nicht mehr frei und entspannt eingesetzt werden. Wer Berührungen, Farben oder Licht sehr intensiv erlebt, benötigt mehr Abstand zu den Mitmenschen und bestimmte Raumfarben oder Lichtverhältnisse, um sich zu fokussieren. Menschen, die auf elektromagnetische Felder reagieren, freuen sich über Handys im Flugmodus oder Räume ohne Bluetooth/WLAN. Judith Rommel forscht zu Neurodiversität und Wohnen. Ihr aktuelles Buch geht auf viele weitere Aspekte der Umwelt- und Umgebungsbedürfnisse neurodivergenter Menschen ein.3
Im direkten Kontakt miteinander lassen sich Bedürfnisse abstimmen und Lösungen für Konflikte finden. Für guten Kontakt ist wichtig, dass alle „negativen Einflussfaktoren aus dem direkten Lernumfeld entfernt werden können“ (Philipp, Musiklehrer an einem Gymnasium). Aus Sicht einer Dirigentin sagt Constanze Rommel: „Wenn der Proberaum für alle ein entspanntes Lernumfeld ist, können wir unsere Fähigkeiten optimal abrufen. Wir arbeiten effizienter und es entsteht positive Energie, die uns alle weiterbringt.“ Ein neuroinklusives Umfeld fördert also die individuelle Entfaltung und stärkt die Gemeinschaft.

Offline und Online

Onlinekurse erleichtern neurodivergenten Menschen die Teilhabe an musikalischen Bildungsangeboten, da sie in ihrer selbst gewählten Umgebung Umweltreize besser kontrollieren können. Julia (16, Klavierschülerin) erklärt: „Ich kann in meinem gewohnten Umfeld ohne Ablenkungen lernen und spare mir die Erschöpfung durch laute Räume oder lange Fahrten.“ Ähnliches gilt für neurodivergente Lehrkräfte: „Onlineunterricht ermöglicht mir, in einer passenden Umgebung zu unterrichten und mich vor elektromagnetischen Feldern ausgehend von WLAN und funkenden Geräten an der Musikschule zu schützen,“ so Thomas (Musiklehrer).
Für erfolgreichen Onlineunterricht ist die Empathie der Lehrkraft entscheidend, um auf emotionale Herausforderungen und Stimmungen ihrer SchülerInnen eingehen zu können.

Kommunikation stärken

In der bewussten Kommunikation liegt ein entscheidender Schlüssel, damit neurodiverse Gruppen gut miteinander klarkommen. Sollte jemand Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation haben, dann reicht oft schon aus, wenn die nächsten Schritte der Interaktion explizit benannt werden, z. B.: „Kommen Sie herein und wir begrüßen uns.“ Durch Reizüberflutung geraten manche Menschen in Stress, sodass sie nicht mehr verbal kommunizieren können. Dafür tragen sie Kommunikationskarten bei sich. Auch Musizieren (z. B. beruhigendes Klavierspiel) und Fidget Toys helfen bei der Selbstregulation.
Bei einem 38-jährigen Chorsänger, der auf ein stressiges Arbeitstempo mit dem Herumwerfen von Noten und Stimming (selbststimulierendes Verhalten zur Beruhigung) reagierte, half ein spezieller Führungsansatz. Er bekam einen Anker in der Gruppe, indem er eine Führungsstimme übernehmen und sich vor die Gruppe setzen durfte. Die ausgeprägte Präsenz der Führungsperson und die klare Struktur der Probensituation wirkte beruhigend und ermöglichte dem Sänger, aktiv weiter mit der Gruppe zu üben. Hilfreich ist auch, die Gruppe vorzubereiten, damit sie entspannt mit solchen Situationen umgehen kann. Am besten ist, die betroffenen Personen direkt selbst zu fragen, was er oder sie braucht.
Das gemeinsame Lernen braucht eine sichere Lernatmosphäre, in der offen über individuelle Stärken und Schwächen kommuniziert wird. In einer solchen Atmosphäre können Perspektiven neurodivergenter Personen die Gruppe bereichern, z. B. im Austausch über die Wahrnehmung von Musik im Körper, der allen Beteiligten spannende Perspektiven eröffnet.

Flexibilität und Routinen

Der Umgang mit Neurodivergenzen erfordert klare Routinen und unterstützende Hilfsmittel wie visuelle Timer für strukturierte Arbeitsphasen. Gleichzeitig ist Flexibilität notwendig, um auf besondere Begabungen einzugehen: Musikunterricht bietet Raum für individuell angepasste Lernwege. Für Menschen, die keine Noten lesen können, eignen sich Audiodateien oder angepasste Notenschriften. Farben oder Kontraste können musikalische Zusammenhänge für Lernende mit Dyslexie zugänglicher machen.
Auch Notenlesen zu lernen, braucht Flexibilität: Viele Menschen erzielen Erfolgserlebnisse über das Musizieren nach Noten. Andere erlernen durch das Improvisieren Noten und Musikstile. SynästhetikerInnen und AbsoluthörerInnen haben ebenfalls individuelle Lernprozesse. Prüfungen und Leistungsnachweise brauchen ebenso Flexibilität und faire Anpassungen, damit sie neurodivergente SchülerInnen nicht benachteiligen. Stress durch Gruppenprüfungen oder Publikum kann durch Alternativen wie Einzelprüfungen, Audio-Aufnahmen oder flexible Zeitvorgaben reduziert werden. Dabei sollte reflektiert werden, welche Kompetenzen – technische Fähigkeiten, Durchhaltevermögen oder andere – tatsächlich im Fokus stehen.

Selbstorganisation fördern

Selbstorganisation ist für neurodivergente Menschen oft eine Herausforderung. Lehrkräfte können durch klare Strukturen, Reflexionsangebote und Routinen gezielte Unterstützung geben. Dabei können z. B. digitale Tools wie Projektmanagement-Apps genutzt werden, um Ziele in kleinere Schritte zu zerlegen. Der Unterstützungsbedarf sollte individuell passend zur jeweiligen Neurodivergenz besprochen werden.
Silje (13 Jahre, ADHS) sagt: „Ich schreibe mir jeden Tag auf, wann ich Geige übe und wie oft ich ein Stück durchspiele. Das hilft mir, genau zu wissen, was ich machen soll. Am besten klappt es, wenn mir jemand zuhört und klar erklärt, was wichtig ist.“ Die Schülerin hält also durch konkrete Anweisungen und Empathie motiviert ihre Überoutine ein. Für einige SchülerInnen ist auch die Gewohnheit, Smartphones und Tablets während des Übens in den Flugmodus zu schalten, sinnvoll. Damit werden Ablenkungen reduziert und der Fokus lässt sich leichter halten.

Fazit

Neurodiversität, auch wenn aus medizinischer Sicht als Begriff umstritten, fordert eine pädagogische Haltung, die Lernende in ihrer Unterschiedlichkeit wertschätzt. Guter Musizierunterricht berücksichtigt die vielfältigen Fähigkeiten und Stärken, die Neurodiversität mit sich bringt. Neuro­inklusion beruht unter anderem auf einem achtsamen Umgang mit der individuellen Verarbeitung von Sinneseindrücken und kommunikativen Herausforderungen. Dabei bereichert Neurodiversität auch das musikalische Miteinander: Die Stärken neurodivergenter Lernender inspirieren innovative Unterrichtsansätze und fördern ein wertschätzendes Miteinander. Empathie und klare Strukturen schaffen sichere Lernräume, in denen alle Beteiligten ihr Potenzial entfalten können. Lernen setzt immer Kommunikation und Beziehung voraus, weshalb die Sensibilisierung und das Wissen über den Umgang mit unterschiedlichen Neurodivergenzen im Unterricht sehr wichtig sind.

1 Walker, Nick: „Neurodiversity: Some Basic Terms & Definitions”, 2014, https://neuroqueer.com/neurodiversity-terms-and-definitions (Stand: 4.3.2025).
2 Häufigkeiten in Prozent der Bevölkerung in Deutschland: Autismus: 0,6% – 1%, www.umweltbundesamt.de/themen/gesundheit/umweltmedizin/autismusautismus-spektrum-stoerungen#welche-risikofaktoren-sind-bekannt (Stand: 4.3.2025); ADHS: ca. 5%, www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/INTEGRATE_ADHD/INTEGRATE-ADHD_inhalt.html (Stand: 4.3.2025); Dys­kalkulie: 3% – 7 %, www.aerzteblatt.de/archiv/ diagnostik-und-behandlung-der-rechenstoerung-1cac4d3c-58af-4940-80bb-c30cb5cd42f5 (Stand: 4.3.2025); Legasthenie: 4% – 8%, Plume, Ellen/ Warnke, Andreas: „Definition, Symptomatik, Prävalenz und Diagnostik der Lese-Rechtschreib-Störung“, in: Monatsschrift Kinderheilkunde, April 2007, S. 322-327, doi: 10.1007/s00112-007-1480-2.
3 Rommel, Judith: Neurodiversität, Hochsensibilität und Wohnen: Von angewandter Forschung zu sozialer Innovation, Wiesbaden 2025.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2025.