Seidl, Mathes

Nicht ganz von dieser Welt

Ein psychologischer Weg zum Verständnis des Glücksgefühls beim Musizieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 19

Was passiert mit uns, wenn wir beim Musizieren in den “musikalischen Raum” eintauchen und vollständig darin aufgehen? Mathes Seidl nimmt uns mit auf den Weg zum “Urmenschlichen” und zu einer Tiefen­psycho­lo­gie der Musik voll innerer Erlebens­vorgänge und Resonanzen, ausgelöst durch die Interaktion des Menschen mit der ihn umgebenden Welt.

Von jeher haben Musik und vor allem musizierende Menschen eine Wirkung auf mich ausgeübt, die über die äußere Abfolge der erklingenden und wieder verklingenden Töne wie auch die sonstigen greifbaren Dinge der Musik weit hinausgeht; vielmehr erscheinen die materiellen Vorgänge von jener Wirkung überstrahlt, umhüllt und in einen sphärischen Raum getaucht, aus dem die musikalischen Dinge erst hervortreten. Deutlichere Konturen erhält dieser Eindruck, wenn ich an meinen Vater zurückdenke: Er war Geiger von Beruf und wenn er übte, war es mir, als ginge es ihm um diesen merkwürdigen Raum, um einen persönlichen Eintritt oder wenigstens Zugang. In diesem Raum konnte er sich irgendwie verströmen und auflösen, ja verwandeln. Er schien dann ganz bei sich, weit weg von meiner Welt und doch in einem viel größeren Sinn gegenwärtig.
Als ich dann selbst Musiker wurde, bestätigte sich mir diese Beobachtung am eigenen Leib: Ich erlebe musizierend einen Innenraum, in den ich mich einlassen, mich bewegen kann und aus dem ich gleichzeitig musizierend und tätig gestaltend heraustreten kann. Und zwar als ein Anderer, Verwandelter. Das gilt allerdings nur für den Fall, dass mir das Öffnen des Raums gelingt. Gelingt es nicht, verzweifle ich meistens – und zwar nicht an der Musik oder an meinem Instrument, sondern an mir selbst. Offenbar geht es bei dem Verschwinden und persönlichen Auftauchen um einen sehr persönlichen Prozess.
Worum geht es hier? Wonach kann ich überhaupt fragen, um diesen Beobachtungen auf die Spur zu kommen? Ich versuche einen Anfang zu machen mit folgender Frage, wie sie der Philosoph Peter Sloterdijk ähnlich gestellt hat:1 „In welcher Welt oder welchen Welten bin ich oder bewege ich mich, wenn ich in der Musik bin, wenn ich Musik mache oder Musik höre?“ Ich möchte dieser Frage auf einem psychologischen Weg nachgehen: Ich habe vor, mich auf die erwähnten Erfahrungen besinnend, nach Theorien, Konzepten, Modellen Ausschau zu halten, in denen eine Antwort auf diese Frage anklingt.
Der springende Punkt des Ganzen ist das Erleben eines inneren musikalischen Raums, in den ich eintauche und aus dem ich gleichzeitig verändert wieder auftauche. Was verändert sich? Was ist da, was vorher nicht da war? Ich sage es vorläufig so: Was sich verändert, ist das Wie meines Musizierens. Aus einem Irgendwie-Tun ist ein musikalisches Tun geworden.
Was heißt das? Mit dem Eintreten in jenen inneren Raum verlieren alle technischen Spielbewegungen ihren äußeren mechanischen Charakter. Sie verwandeln sich in musikalische, besser: „musikalisierte“ lebendige Bewegungen, die mit mir selbst zu tun haben. Darüber hinaus sind es Bewegungen, die sich in ihrem Ereignen erschöpfen und weder eine Funktion noch eine über ihr eigenes Bewegtsein hinausgehende Bedeutung haben. Diesen inneren Raum, der sich organisch im musikalischen Ausdruckswillen manifestiert, nenne ich den musikalischen Raum.
Wie erlebe ich mich selbst in diesem Raum? In ihm fühle ich mich einerseits nicht ganz oder noch nicht ganz in der alltäglichen Welt, aber auch nicht irgendwo außerhalb; vielmehr bin ich mittendrin – ja ganz besonders mittendrin… Vieles aus der alltäglich greifbaren Welt ist da: Ich kann hören, mich spüren, auf Eindrücke reagieren und Resonanzen empfinden, mich von ihnen bewegen lassen und weitere erzeugen; aber das alles ist in eine Art aufgelösten, fast taumelnden Zustand gerückt, den ich am ehesten beim Aufwachen erlebe, wenn ich in die Welt „hineinfließe“. Dieser persönliche Eindruck passt gut zu jener Gefühlslage, die Romain Rolland in einem Brief an Sigmund Freud beschreibt2 und die von diesem als „ozeanisches Gefühl“ bezeichnet wird.3 Freuds Auffassung, dass es sich dabei um ein Gefühl für die „Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen“ handelt, ist für mich sehr einleuchtend. Ich begann, mich auf psychologische Äußerungen, Konzepte und Theorien zu besinnen, in denen nach meinem Gefühl etwas von dem erfahrenen musikalischen Raum enthalten sein könnte.

1 „Wo sind wir, wenn wir Musik hören?“ in: Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt am Main 1993, S. 301 ff.
2 Brief vom 5. Dezember 1927.
3 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Frankfurt am Main 2001, Einleitung.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2011.