Song, Ji-Youn
Nichts steht im Weg
Kinder entdecken Musik im Klangraum Flügel
Neue Ansätze in der Klavierpädagogik gibt es viele. Aber nur selten beziehen sich diese konsequent auf die zeitgenössische Musik mit den darin sprunghaft erweiterten Spieltechniken und nutzen die damit entstehende Freiheit methodisch als Ausgangspunkt für einen kreativen und experimentierfreudigen Anfangsunterricht. Genau dies tut die hier beschriebene Unterrichtsmethode.
Atemlos rennt Anton um den Flügel herum, schlägt hier auf den Deckel, zupft dort einige Saiten, schreit in den weit geöffneten Innenraum hinein, „schleicht“ mit seinen Handflächen über die Tastatur und lässt plötzlich eine Metallkette auf die Saiten im Inneren fallen. Hochkonzentriert steht er kurz vor der Uraufführung seiner ersten eigenen Komposition beim Schülervorspiel und freut sich darauf, sein Gespensterhaus endlich einem Publikum vorstellen zu können.
Vor kaum zwei Monaten, in seiner ersten Klavierstunde, stand Anton zum ersten Mal vor diesem Flügel. Wir öffneten ihn und erkundeten nach und nach alle seine Bestandteile, saßen auf dem Boden, steckten die Köpfe in den Innenraum, zupften hier, klopften dort, drückten die Pedale und staunten zusammen über dieses faszinierende und in seinen klanglichen Möglichkeiten bis heute noch gar nicht ausgeschöpfte Instrument. Und jetzt steht vor Anton die erste von ihm selbst verfasste Partitur! Grafisch notiert, für Außenstehende kaum mehr als eine abstrakte Zeichnung.
Im Folgenden schildere ich den Ertrag meiner über 15-jährigen, intensiven und praxisbezogenen didaktischen Forschungsarbeit. Ausdrücklich beziehe ich mich dabei auf die in der zeitgenössischen Musik enorm erweiterten Spieltechniken und nutze die damit einhergehende Freiheit methodisch als Ausgangspunkt für einen experimentellen und kreativen Anfangsunterricht. Meine SchülerInnen entdecken ungehindert das große geheimnisvolle Instrument Klavier und seinen faszinierenden Klangraum. Sie experimentieren mit den unterschiedlichsten Klängen, notieren grafisch ihre Ergebnisse und beginnen dabei wie von selbst, spielerisch zu komponieren. Die Ergebnisse ihrer Erkundungen am Klavier entwickeln sie zu eigenen originellen Kompositionen, die sie schon wenige Wochen nach Beginn des Unterrichts mit großer musikalischer Spannung präsentieren. Spontan entdecken sie, was es bedeutet, spannungsvoll zu musizieren.
Viele neue Spieltechniken und die mit ihnen arbeitenden Kompositionen fesseln Kinder ganz direkt. Im Klavierunterricht daran methodisch gleich zu Beginn anzuknüpfen, trägt wesentlich dazu bei, die ursprüngliche Aufgeschlossenheit der Kinder gegenüber zeitgenössischer Musik wachzuhalten und verbreitete Vorurteile ihr gegenüber gar nicht erst entstehen zu lassen. So wünscht sich die heute 15-jährige Schülerin, die bei mir im Alter von sechs Jahren mit dieser Methode am Klavier begonnen hat, weiterhin die Musik von John Cage oder György Kurtág zu spielen, während eine andere, die nach längerem Unterricht erst mit 15 Jahren zu mir kam, sich schon bei Béla Bartók verweigert.
Schon wenige Wochen experimentellen Anfangsunterrichts reichen aus, um auf Dauer an zeitgenössischer Musik interessiert zu bleiben und sich immer wieder explizit diese Literatur zu wünschen. Ideal ist dabei die sechsjährige Anfängerin, der bildhaftes Denken und die Bewegungen ihrer Fantasie mehr bedeuten als alle geschriebenen Töne oder Worte. Sie hat die größte Aufgeschlossenheit gegenüber geräuschhaften, atonalen Klangkompositionen und findet auch ganz unbefangen Zugänge zum grafischen Notieren.
Der Flügel als Experimentierfeld
Das eigentliche Experimentierfeld für meinen Anfangsunterricht ist der Flügel bzw. das Klavier selbst mit all seinen verschiedenen Bestandteilen: Saiten, gusseiserner Rahmen, Pedale, Resonanzboden, Stimmwirbel, Holzrahmen und natürlich die vielen schwarzen und weißen Tasten. Alle diese verschiedenen Teile können zum Klingen gebracht werden bzw. bringen etwas zum Klingen. Sie werden im Unterricht ohne jedes Tabu genutzt. Um diese Phase des Erkundens und Experimentierens zu strukturieren, behandeln wir zunächst das Flügelinnere (Metall) im Zusammenhang mit dem Flügelkorpus (Holz) und dann in einem zweiten Schritt die Tastatur. Sobald diese Erkundungen abgeschlossen sind und die Entwicklung einer eigenen Komposition fortschreitet, können die beiden Bereiche auch verbunden werden.
Zum Unterricht in dieser Anfangsphase gehören ein Malblock, Malstifte und ein Hausaufgabenheft für klare Anweisungen, die dabei helfen, die im Unterricht gemachten Experimente zu Hause zu wiederholen und auch die Eltern an den Entwicklungen dieser ersten Stunden teilhaben zu lassen.
Entscheidend für alles Experimentieren und Komponieren ist die Haltung der Lehrenden. Sie müssen spürbar machen, dass hier mit Ernst und Anspruch gearbeitet wird. Noch vor ihrem Bemühen, etwas zu vermitteln, ist also „ein interessiertes, aufmunterndes, dabei abwartendes Verhalten ohne Einmischung in Absicht und Tun des Schülers“ gefordert. „Bestenfalls gilt es, Denkanstöße zu geben in Form von auffordernden Gesten und, wenn nötig, den Schüler in eine motivierende Anreizsituation zu versetzen, die ihm den Beginn erleichtert, ihn ,kreativ‘ […] werden lässt.“1
Hinein ins Flügelinnere
In der ersten Stunde lade ich die SchülerInnen dazu ein, das Innere des Instruments entsprechend ihrer jeweiligen Neugier zu erkunden und mit ihm zu experimentieren. Handelt es sich um einen Flügel, öffne ich den Deckel und entferne den Notenständer; geht es um ein Klavier, öffne ich die Wand unter und über der Tastatur. Ist die Schülerin noch zu klein, um selbst in den Flügel hineinzuschauen, stelle ich ihr einen Hocker zur Verfügung. Beim Klavier dagegen sitzen wir sehr bald gemeinsam vor den Saiten auf dem Boden.
1 Peter Heilbut: Improvisieren im Klavierunterricht. Wege zum aktiven Hören, Florian Noetzel, Wilhelmshaven 51988, S. 78.
Hörbeispiele
„Gespensterhaus“ von Anton
„Dunkler Schatten“ von Phil
„Dramatische Nacht im Zoo“ von Lennert
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2017.