© Musikschule Brunn am Gebirge

Göller, Markus

Niederschwellige Partizipation

Musiklernwelten im Umfeld der Kirchenmusik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 20

Geistliche Zentren sind seit Jahrhun­derten Institutionen musikalischer Bildung. Die Karrieren zahlreicher MusikerInnen begannen im Umfeld der Kirchenmusik: ein Phänomen, welches sich weltweit im Kontext christlicher Kirchen verschie­dener Konfessionen beobachten lässt. Diese „Communities of Practice“ bestärken auch das musikalische Handeln außerhalb des religiösen Rahmens und tragen zur allgemeinen musika­lischen Bildung bei.

Das Osterfest 2020 blieb in zahlreichen Kirchengemeinden ohne die musikalische Beteiligung von Gemeinde, Chor und InstrumentalistInnen. Das durch die Corona-Pandemie zum Erliegen gekommene kulturelle Leben lässt die Bedeutung der Kirchenmusik und ihren Einfluss auf musikalische Bildung noch sichtbarer werden. Im wissenschaftlichen Diskurs der Instrumental- und Gesangspädagogik gewinnt die Bedeutung des musikalischen Lernens im sozialen Kontext zunehmend an Relevanz.1 Natalia Ardila-Mantilla bestätigt in ihrer Forschungsarbeit „Musiklernwelten erkennen und gestalten“, dass „musikalische Lernwelten“ nicht nur institutionell – etwa durch Musikschulen – begründet werden, sondern vielfach im kulturellen Leben verankert sind.2 Musikvereine aller Art können hierfür als Beispiel dienen, geht doch der musikalischen Praxis stets ein längerer Lernprozess in Form von individueller und gemeinsamer Probenarbeit voran, der zu einer Erweiterung des Repertoires wie auch des musikalischen Könnens führt.3
Die Kirchenmusikpraxis bildet einen Sonderfall, welcher musikalisches Lernen nicht nur in einen sozialen, sondern auch religiösen Kontext stellt.4 Bedeutsam erscheint der Beitrag der Kirchenmusik zur musikalischen Allgemeinbildung angesichts der Dichte der vorhandenen Strukturen, der Niederschwelligkeit des Angebots und der generationsübergreifenden Zielgruppen. Kulturträger jedes noch so kleinen Dorfes ist unter anderem die lokale Pfarrgemeinde. Nicht nur der Gemeindegesang im Gottesdienst trägt zur musikalischen Praxis und Partizipation bei, sondern auch zahlreiche Gruppierungen, welche sich um die Pfarrgemeinde scharen. Kinder- und Jugendchor, Instrumentalensembles von Band bis Orchester, Blechbläserensembles, OrganistInnen und Kirchenchöre bilden sich laufend musikalisch weiter und praktizieren ihr Können auch außerhalb des religiösen Kontextes.
So wird aus dem Wirken einer Pfarrgemeinde mitunter ein vitales Konzept musikalischer Bildung, ein sozialer und spiritueller Raum, in dem vielfältige Erscheinungen des musikalischen Lernens symbiotisch situiert sind und von den Beteiligten der genannten „Praxisgemeinschaften“5 initiiert werden.

Drei Modelle des Musiklernens im sozialen Kontext

In der 2018 erschienenen Publikation Musik Lernen erachten Natalia Ardila-Mantilla, Thomas Busch und Michael Göllner drei Lerntheorien als wesentlich für das musikalische Lernen im sozialen Kontext. Albert Banduras sozial-kognitive Lerntheorie geht von der gegenseitigen Beeinflussung der miteinander interagierenden Individuen aus und scheint aus dieser Perspektive geeignet, um das „Lernen am Modell“, wie es Anselm Ernst skizziert hat, zu erklären.6 Modelle bzw. Vorbilder für Musiklernen sind in der Kirchen­musiktradition mitunter musikalisch begabte Menschen, die für eine Gruppe als KulturträgerInnen auftreten, andere zum gemeinsamen Gesang motivieren oder öffentliche und private Andachtsformen musikalisch anleiten.7 Bedeutung gewinnen in der geistlichen Musik auch antiphonale Gesangsmodelle, welche sich durch fortwährende Wiederholung einzelner Phrasen oder Kehrverse bei den Beteiligten einprägen.8
Jean Laves und Etienne Wengers Lerntheorie geht davon aus, dass das Lernen auf vielfache und differenzierte Weise in „Praxisgemeinschaften“ (Communities of Practice) situiert ist. Kennzeichnend für Mitglieder dieser Gemeinschaften ist deren periphere oder zentrale Zugehörigkeit zu verschiedenen Communities of Practice sowie die fortwährende Dynamik dieser Zugehörigkeiten.9 Wachsende Teilhabe an der gemeinsamen musikalischen Praxis der Kirchenmusik findet ihre Ausprägung in der gesamten Lebensspanne der Beteiligten. In der europäischen Kulturgeschichte bildet die Kirchenmusik nicht nur eine dieser Communities of Practice, sondern vereint unter ihrem Dach einen musikalischen Mikrokosmos zahlreicher weiterer „Praxisgemeinschaften“ mit unterschiedlichen Graden der Partizipation und Niederschwelligkeit.
Als Besonderheit der Kirchenmusik stellt sich neben dem sozialen auch der religiöse Kontext dar, in den sie eingebettet ist. Einerseits führt er zweifellos zur Exklusivität des musikalischen Genres, andererseits wirkt er sich auf musikalische Aufführungspraxis und Überlieferungsprozesse aus. „Gerade im liturgischen und religiösen Bereich wird auf wortwörtlich genaue Wiedergabe und Weiterführung der Tradition Wert gelegt“.10 Pierre Bourdieu beschreibt soziales Lernen als Prozess der „Habitualisierung“, also der Anpassung an ein soziales und normatives Regelwerk, in welchem unterschiedliche Positionen und Machtverhältnisse der Beteiligten für die Erweiterung beziehungsweise Einschränkung der individuellen Lernmöglichkeiten ausschlaggebend sind. „Religio“ [lat. „Rücksicht“, „Rückbindung“] ist ein Begriff, der vielseitige normative Wertvorstellungen anspricht. Darunter fallen individual- und sozialethische Überzeugungen wie theologische Aussagen, welche sich in einem hierarchischen Wertesystem manifestieren. Religiöse Überzeugungen dienen auch als Argumentationsgrundlagen für soziale Hierarchien, womit in Bezug auf die Kirchenmusikpraxis Bourdieus Sozialtheorie sicherlich aussagekräftig erscheint.11
Bernhard König unterstreicht die regionale kulturelle Verantwortung der Kirchenmusik und betont in diesem Zusammenhang deren Konzept, das alltägliche Singen und Musizieren zur Basis des Musiklebens zu machen: „Ich halte das ‚Prinzip Kirchenmusik‘ mit seiner organischen und pyramidalen Struktur für eines der wichtigsten Vorbilder für ein zukunftsfähiges Musikleben. Aufbauend auf dem Singen der Gemeinde und dem partizipativen Musizieren in den Gemeindechören stellen die ‚großen‘ Konzerte hier, anders als im säkularen Konzertbetrieb, nicht den täglichen Normalfall dar, sondern bilden als festlicher Höhepunkt und Sonderfall die ‚Spitze der Pyramide‘.“12

1 vgl. Natalia Ardila-Mantilla/Thomas Busch/Michael Göllner: „Musiklernen als sozialer Prozess. Drei theoretische Perspektiven“, in: Wilfried Gruhn/Peter Röbke (Hg.): Musik Lernen. Bedingungen – Handlungsfelder – Positionen, Innsbruck 2018, S. 178-203, hier: S. 178.
2 vgl. Natalia Ardila-Mantilla: „Vielfältige Arbeitsweisen, verschiedene Zielvorstellungen, koexistierende Communities. Die Pluralität der Musikschularbeit aus der Perspektive der Lehrerinnen und Lehrer“, in: Natalia Ardila-Mantilla/Peter Röbke/Hanns Stekel (Hg.): Musikschule gibt es nur im Plural. Drei Zugänge, Innsbruck 2015, S. 51-77, hier: S. 53.
3 vgl. Wolfgang Lessing: „Von Kernen und Rändern. Überlegungen zum Ort der Instrumentalpädagogik“, in: Wolfgang Rüdiger (Hg.): Instrumentalpädagogik – wie und wozu? Entwicklungsstand und Perspektiven, Mainz 2018, S. 19-50, hier: S. 37.
4 vgl. Markus Göller: Das Geistliche Lied. Seine Bedeutung in Wallfahrt und Volksfrömmigkeit, Atzenbrugg 2019, S. 230.
5 vgl. Peter Röbke: „Lernen in der musikalischen Praxisgemeinschaft. Wie der „formal/informal“-Diskurs überlagert wird“, in: Peter Röbke/Natalia Ardila-Mantilla (Hg.): Vom wilden Lernen. Musizieren lernen – auch außerhalb von Schule und Unterricht, Mainz 2009, S. 159-168, hier: S. 159.
6 vgl. Ardila-Mantilla/Busch/Göllner, S. 81.
7 vgl. Walter Deutsch: Die Volksmusik in Niederösterreich. Die überlieferten Musikformen in der Gegenwart (= Wissenschaftliche Schriftenreihe Niederösterreich 54/55), St. Pölten 1981, S. 16.
8 vgl. Göller, S. 151.
9 vgl. Ardila-Mantilla/Busch/Göllner, S. 178.
10 Alica Elscheková: „Überlieferte Musik“, in: Herbert Bruhn/Helmut Rösing (Hg.): Musikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 221-237, hier: S. 224.
11 vgl. Ardila- Mantilla/Busch/Göllner, S. 193.
12 Bernhard König: „Monteverdi und der Klimawandel. Wie die Musik auf eine globale Herausforderung reagieren könnte“, in: neue musikzeitung 9/2019, S. 12, www.nmz.de/artikel/monteverdi-und-der-klimawandel (Stand: 12.8.2021).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2021.