Herbst, Sebastian
Noten-Streaming als Zukunftsmodell?
Der Kommentar
Noten kopieren: ein bekanntes und viel diskutiertes Thema in der Musikschule. Die Arbeit mit gut editiertem Notenmaterial in gebundener Ausgabe bringt viele Vorteile und selbstverständlich möchte niemand die an der Publikation Beteiligten um ihren Verdienst bringen. Aber Lisa möchte doch nur die eine Sonate und Lara nur den einen Song ihrer Lieblingsband spielen. Einzelausgaben sind oft nicht verfügbar und die Gesamtausgabe können sich ihre Eltern nicht leisten. Kopieren oder Nicht-Kopieren ist nun die Frage. Um LehrerInnen Rechtssicherheit zu bieten, verlängerten der Verband deutscher Musikschulen (VdM) sowie der Bundesverband der Freien Musikschulen (bdfm) jüngst die Rahmenpauschalverträge mit der GEMA und der VG Musikedition zum Kopieren geschützter Werke für Unterricht und Aufführungen bis 31. Dezember 2023.
Interessanterweise bin ich zeitgleich zu diesen Pressemitteilungen immer häufiger auf Werbung von Noten-Streaming-Diensten gestoßen. Wäre das nicht toll, alle Noten immer und überall verfügbar zu haben? Ähnlich den Musik-Streaming-Diensten könnte man für eine eher geringe monatliche Gebühr auf alle Noten zugreifen, einfach mal 15 Takte eines Stücks anspielen, daraus seine persönliche PLAYlist erstellen und diese mit anderen teilen. Es ist anzunehmen, dass die künftigen Diskussionen über Noten-Streaming ähnlich kritisch geführt werden wie im Falle von Musik-Streaming. Manche werden eine Gefahr in der quantitativ nicht zu bewältigenden Fülle sehen und den Kauf eines gebundenen Notenbuchs aufgrund besonderer ästhetischer Erfahrungen sowie emotionaler Verbundenheit bewerben. Und auch hier wird sich die Frage stellen, wer auf welche Weise wie viel Geld am Noten-Streaming verdient.
Die Entwicklung von Noten-Streaming-Diensten scheint jedenfalls den Puls der Zeit zu treffen. Die Jim-Studie (Jugend, Information, Medien), die den Medienumgang 12- bis 19-Jähriger untersucht, hält einige Ergebnisse zur Nutzung von Streaming-Diensten bereit. Da die Ergebnisse von 2019 bis zum Redaktionsschluss noch nicht vorlagen, beziehe ich mich im Folgenden auf den Ergebnisbericht für das Jahr 2018. In jeder vierten Familie gehören 2018 Streaming-Boxen zum Medienrepertoire und in zwei von drei Haushalten haben Jugendliche die Möglichkeit, über einen Musik-Streaming-Dienst Musik zu hören. Zudem befinden sich die Musik-Streaming-Dienste mit 62 Prozent regelmäßiger Nutzung erstmals auf Platz 1 der Musiknutzungsoptionen und steigen damit um zehn Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. Dabei zeigt sich, dass die Bedeutung der Streaming-Dienste mit dem Alter der Jugendlichen zunimmt. Zudem gehören Jugendliche mit einem formal höheren Bildungsniveau häufiger zu den Nutzern von Streaming-Diensten. Jugendliche mit formal niedrigem Bildungsniveau nutzen eher kostenlose Optionen wie YouTube. Für 2019 ist anzunehmen, dass Streaming-Dienste weiterhin an Bedeutung gewonnen haben.
Es ist klar, dass wirtschaftlich orientierte Noten-Streaming-Dienste zunächst Angebote für Instrumente bereithalten, die auf einen entsprechend großen Markt treffen. Über Werbung in sozialen Netzwerken bin ich daher auf einen medial gut aufbereiteten und einem Musik-Streaming-Dienst visuell und preislich sehr ähnlichen Streaming-Dienst für Klaviernoten gestoßen. Im Abonnement für monatlich ca. zehn Euro erhält man Zugang zu einer vielseitigen Notenbibliothek (z. B. Klassik, Filmmusik, Pop & Rock, Jazz, Musical, Latin) samt diverser Playlists. Es ist möglich, eigene Playlists zu erstellen, zudem sind zwei Ausdrucke pro Monat im Preis enthalten.
Etwas Besonderes ist der pädagogische Anspruch, den die BetreiberInnen verfolgen möchten. Zu den Titeln werden Video-Material und Klangbeispiele bereitgestellt, darüber hinaus werden mir täglich neue Empfehlungen versprochen, die mich zum Üben motivieren sollen und dabei, so die Ankündigung, mein individuelles Spielprofil berücksichtigen. Dazu wurden in Anlehnung an Computerspiele für alle Titel Schwierigkeitsgrade von Level 1 bis Level 100 festgelegt (Anfänger, ambitioniert, fortgeschritten, virtuos).
Es lässt sich natürlich kritisch fragen, nach welchen Kriterien die Stücke auf einer so extrem differenzierten hundertstufigen Skala zugeordnet werden: Wie kommt es, dass das „Star Wars“-Thema von John Williams dem Level 49 und der Song Alone, Pt. II von Alan Walker und Ava Max dem Level 50 entspricht? Es stellt sich aber auch die Frage, ob Noten-Streaming-Dienste das überhaupt leisten sollen bzw. können oder ob dazu die individuell an den SchülerInnen orientierte Arbeit von Musikschullehrenden notwendig ist. Schließlich verfügen Musik-Streaming-Dienste auch nicht über ein didaktisch aufbereitetes Feature zum Musikhören.