Menrath, Thomas

Nur ein Notbehelf

Gedanken zum Online-Klavierunterricht in Zeiten von Corona

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 5/2020 , Seite 36

„Jeder von uns, der Online-Teaching jetzt nutzt, in je größerem Umfang, desto besser, kann weiterhin direkt von seiner Arbeit leben und belastet nicht oder weniger die Hilfsfonds der Solidargemeinschaft. Als Fachbereichsleiter einer Musikschule gebe ich aber schweren Bedenken von vielen Kollegen zur Tauglichkeit des Online-Teachings außerhalb dieser aktuellen Notsituation uneingeschränkt Recht. Es ist eine Notsituation, und wir alle hoffen, dass wir bald wieder zum Präsenzunterricht und zur Normalität zurückkehren können.“1

Spätestens als im März die Musikschulen und Hochschulen geschlossen wurden, merkten wir, dass die Situation ernst wurde. Zur Unsicherheit über die Gefährlichkeit der Krankheit kam sehr bald die Sorge um die Zukunft des Musiklebens und nicht zuletzt um die materielle Lage der dort Beschäftigten. Es war blanke Existenznot, die viele Kolleginnen und Kollegen, vor ­allem die selbstständig Arbeitenden, also Lehrbeauftragte an Musikhochschulen und Honorarkräfte an Musikschulen, zum Onlineunterricht übergehen ließ.

Perspektive

Die im Eingangszitat erhoffte Normalität scheint sich bis auf Weiteres nicht einzustellen. Zwar wurde der Präsenzunterricht unter strengen Hygieneauflagen sowohl an den Musikschulen wie auch an den Musikhochschulen seit Mai wieder ermöglicht, Veranstaltungen jedoch bleiben abgesagt, Prüfungen werden, wenn überhaupt, online oder unter erheblichem Hygieneaufwand durchgeführt. Auch stimmt die „Risikoeinschätzung einer Corona-Infektion im Bereich Musik“ des Freiburger Universitätsklinikums in Zusammenarbeit mit der Freiburger Musikhochschule2 nachdenklich.
Nach detaillierten Hinweisen zu systemischen Möglichkeiten der Risikoreduktion und zu instrumenten- und gesangsspezifischen Fragen kommen die WissenschaftlerInnen zu dem Schluss: „Ein effektives Risikomanagement erfordert üblicherweise eine präzise Risikoanalyse mit zugehörigen Eintrittswahrscheinlichkeiten und Kenntnisse darüber, wie wirksam bestimmte risikoreduzierende Maßnahmen sind. Aktuell wissen wir aber vieles zur Übertragung durch den SARS-CoV-2 noch nicht, sodass Risikomanagement derzeit eine Gleichung mit vielen Unbekannten bedeutet. Dies lässt Raum dafür, dass unterschied­liche Zielperspektiven (Erkrankungsrate vs. Erhalt der Musikkultur) und persönliche Einstellungen (risikofreudig oder risikoavers) zu unterschiedlichen Handlungsempfehlungen führen können. Individuell muss jeder und jedem das Recht eingeräumt werden zu entscheiden, welches Risiko er oder sie bereit ist zu tragen.“3
Die zumindest teilweise Substituierung des Präsenzunterrichts durch Onlineunterricht gehört also nicht unbedingt der Vergangenheit an, die Situation kann sich im Herbst und Winter durchaus wieder verschärfen. Umso wichtiger ist es, die Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monate zu reflektieren.

Problematik

Die Frage, inwieweit online erteilter Unterricht den Präsenzunterricht ersetzen kann, wurde und wird höchst unterschiedlich beantwortet. Zu Beginn gab es, zumindest bei einem Teil der Lehrenden, einige Zuversicht hinsichtlich des Potenzials der synchronen Onlinelehre. Inzwischen hat sich eine gewisse Ernüchterung breit gemacht.4
Die Frage, ob die beiden Unterrichtsformate – Präsenzunterricht und synchroner Onlineunterricht – gleichwertig seien, muss in unserem Bereich des künstlerischen Einzelunterrichts aus fachlichen, das heißt künstlerischen, pädagogischen und praktischen Gründen ganz klar verneint werden. Das synchrone digitalisierte Format hat sich als ein Notbehelf erwiesen, der vor allem im Unterricht mit Fortgeschrittenen, aber auch mit absoluten AnfängerInnen und Kindern nicht adäquat sein kann und zwar in akustischer, technischer, künstlerischer und pädagogisch-didaktischer Hinsicht.
Schon die Arbeit an den Grundparametern, am Klang, an der Dynamik und am Rhythmus, ist nur mangelhaft möglich, die Synchronizität von Bild und Ton oft nicht gegeben. So stellte ein Kollege fest: „Unabhängig von den technischen Voraussetzungen und dem verwendeten Equipment erscheint mir Echtzeitunterricht nur in Einzelfällen zielführend. Auch bei hochwertigen Mikros, einer stabilen Internetverbindung auf beiden Seiten, Studiokopfhörern auf meiner Seite kann ich zwar plattformunabhängig grobe Tendenzen wie Temposchwankungen, fehlerhafte Töne o. Ä. ausmachen, ,Feinheiten‘ im Spiel (Balance, Dynamik, Tonqualität) sind kaum zu unterscheiden, sodass eine differenzierte Rückmeldung von meiner Seite gerade bei fortgeschritteneren Studenten mit schon bekanntem Repertoire nicht erfolgen kann.“5
Möglicherweise sieht die Zukunft durch technologische Verbesserungen besser aus. Bisher nutzen wir meist Plattformen wie Zoom, Skype o. Ä., die nicht für Musik ausgelegt sind. Andere musikspezifische Plattformen, die zum Teil von den Hochschulen bereitgestellt wurden, wie an der Universität der Künste Berlin z. B. Appassimo, lassen hoffen, überzeugen aber auch nicht alle. Es scheint doch so, dass das Klavier mit seinen Spezifika wie Mehrstimmigkeit, Pedal, perkussiver Tonerzeugung etc. eine besondere Herausforderung darstellt.6
Auch die Arbeit an der körperlichen Umsetzung kann naturgemäß in wesentlichen Punkten nicht stattfinden, der Lehrende muss sein Gegenüber schon sehr gut kennen, um dessen Probleme am Bildschirm diagnostizieren zu können. Künstlerische Aspekte (Ausprobieren lassen, im dialogischen Wechsel eingreifen, Herstellen eines künstlerischen Erlebnisses) und psychologische Aspekte (Empathie, ideomotorische Introjektionsfähigkeit, Übertragungen) kommen viel zu kurz.
Vielen Lehrenden wurde zudem erst nach der Rückkehr zum Präsenzunterricht bewusst, wie belastend der Onlineunterricht tatsächlich war und ist. Die lange Fixierung auf den Bildschirm, die oft schlechte Tonqualität, die immer wieder auftretenden Verbindungsprobleme erweisen sich als eine extreme Belastung für Auge, Ohr und Nerven.

1 Dmitriy Befeler, Fachbereichsleiter Klavier der Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg, in einer e-mail an den Autor vom 11.5.2020.
2 www.mh-freiburg.de/hochschule/covid-19-corona/risikoeinschaetzung, 4. Update vom 17.7.2020 (Stand: 23.8.2020).
3 ebd., S. 38.
4 vgl. Juan Martin Koch: „Die Präsenz feiern, wo es geht. Wie die Musikhochschulen mit dem Corona-Semester zurechtkommen“, in: neue musikzeitung 7/2020, www.nmz.de/artikel/die-praesenz-feiern-wo-es-geht (Stand: 23.8.2020).
5 Eugen Dietrich, Dozent für Klavier an der Hoch­schule für katholische Kirchenmusik und Musik­pädagogik Regensburg, in einer e-mail an den Autor vom 11.5.2020.
6 vgl. hierzu auch Sarah Murrenhoff: „Home-­Teaching nach Japan“, in: Tagesspiegel vom 16.7.2020, www.tagesspiegel.de/themen/udk/musikunterricht-in-coronazeiten-home-teaching-nach-japan/26004808.html (Stand: 23.8.2020).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2020.