Kirchner, Theodor

Nur Tropfen

Ganz kleine Stücke für Streichquartett, für 2 Violinen, Viola und Violoncello, hg. mit einem Vorwort von Wolfgang Birtel, mit Hinweisen für den Unterricht von Anne Erdmann-Schiegnitz, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2023
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Seite 63

Der Titel von Theodor Kirchners Samm­lung kleiner Stücke für Streichquartett ruft sofort Assoziationen zu zeitgenössischer Musik hervor, so knapp und treffend beschreiben die beiden Wörter „Nur Tropfen“ die Musik. Der Komponist spricht sogar von „ganz“ kleinen Stücken, und in der Tat nehmen sie in gedruckter Form teils nicht einmal eine volle Partiturseite ein.
Die Konzentration aufs Wesent­liche, auf einen kurzen Gedanken, der in das ebenso klassische wie anspruchsvolle Gewand des Streichquartetts gehüllt wird, macht die sieben Sätze so attraktiv. Fast könnte man meinen, Theodor Kirchner, der vielleicht gerade noch Organisten und ein paar Kammermusikspezialisten bekannt sein dürfte, hätte sich mit dieser Miniaturensammlung zumindest in Bezug auf die musikalische Konzentration um eine sehr frühe Mitgliedschaft in der Zweiten Wiener Schule beworben.
Trotz aller Knappheit und Konzentration: Einfach zu spielen sind die sieben Sätze keineswegs. Komponiert mit pädagogischem Anspruch, aber eben nicht in der technischen Ausprägung einer Etüde, wollen die „Tropfen“ das kammermusika­lische Ohr schulen, den Ensemb­lezusammenhalt stärken und die Gestaltungskraft und Fantasie des Streichquartetts herausfordern. In diesem Zusammenhang sind die Hinweise für den Unterricht am Ende der Partitur besonders wertvoll.
Anne Erdmann-Schiegnitz reichert Theodor Kirchners so prägnant reduzierten Notentext mit zahlreichen Vorschlägen an, wie die sieben Sätze zur tiefgründigen Ensemble-Schule werden können – in Bezug auf Artikulation und Tongebung oder mit dem Ziel größerer Transparenz oder schärferer Konturen. Die Hinweise von Erdmann-Schiegnitz stellen überdies einen schönen Baukasten an Interpretationsvorschlägen zur Verfügung, bieten aber auch dem Hörer viele Anhaltspunkte zur Einordnung von Kirchners weitgehend unbekannter Musik.
Als bunter, romantischer Mikrokosmos sind Theodor Kirchners sieben ganz kleine Stücke für Streichquartett natürlich viel zu schade, um im Unterricht, ungehört vom großen Publikum, als Ensemble-Etüden zu dienen. Der volle romantische Ton eines Andante cantabile (Nummer 4) oder die feine Linienführung eines Andante (Nummer 6) gehören in den Konzertsaal, nicht zuletzt, um mit Theodor Kirchner einen zu Unrecht vergessenen romantischen Komponisten aus dem Umfeld von Clara und Robert Schumann und Johannes Brahms (wieder) zu entdecken.
Daniel Knödler