Schneider, Enjott

Obscuritas

Traumbild für Gitarre

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2018
erschienen in: üben & musizieren 4/2018 , Seite 60

Bekannt ist Enjott (Norbert Jürgen) Schneider heute vor allem durch seine Filmkompositionen. In Herbstmilch (1989), Rama dama (1990), Stalingrad (1992) oder Schlafes Bruder (1995) unterstützt seine episch angelegte Musik mit einprägsamen Motiven die Aussagen der Bilder. Der Vorteil des Schreibens für Kino-, Fernseh- oder Dokumentarfilme liegt für ihn auf der Hand: „Beim Scoring lernt man unmittelbaren, plastischen Ausdruck; man erhält sofort von Regisseur, Produzent, Publikum Reaktion, ob man die Menschen erreicht oder nicht, man entwickelt ein Vokabular der Emotionen, der ‚Inhalte‘, der Stimmungen und Atmosphären.“
Daneben hat Schneider auch Kon­zertmusik ohne Bezug zu Filmen geschrieben: Werke für Orchester, aber auch Kammermusik, darunter vor allem in jüngster Zeit einige Kompositionen für Gitarre: Vier Baumbilder für Flöte, zwei Gitarren und tiefe Streicher (2011), Vom Kindsein für Gitarre solo (2012) oder The Stones of Newgrange. Spiralmusic for guitar and organ (2017).
Obscuritas. Traumbild für Gitarre solo (2016) integriert den vollen Klang der sechs Saiten der Gitarre durch ausgedehnte Akkordzerlegungen auf der Basis der tiefen sechsten Saite E, Dissonanzen werden auf große Intervalle gestreckt und verlieren so ihre Schärfe. Die Orientierung an den klanglichen Möglichkeiten der Gitarre zeigt sich auch in der Integration von Flageoletts, Glissandi, Bindungen, Metallico und Klopfgeräuschen auf den Korpus. Einige kontrastierende virtuose Passagen unterbrechen die perlenden Zerlegungen. Entstanden sind atmosphärische Klangflächen, die man sich gut als Ausgangsmaterial zu einem imaginären Film vorstellen kann.
Neu ist das alles nicht und ähnelt einigen Werken Leo Brouwers aus dessen minimalistischer Phase ab den 1980er Jahren. Im Gegensatz zu vielen rhythmisch enorm komplexen Kompositionen für Gitarre ist Obscuritas aber einfach zu lesen. Zumeist gleichmäßige Achtelketten, eingebunden in wechselnde Taktarten lassen das etwa siebenminütige Werk auch für die Arbeit an Musikschulen machbar erscheinen. Der Schwierigkeitsgrad entspricht etwa dem der Präludien von Heitor Villa-Lobos.
Manchen Passagen merkt man die Entstehung an Schneiders Hauptinstrument, dem Klavier, an, wenn Intervalle oder Akkordbrechungen in hoher Lage über lang klingende Basstöne gelegt sind, deren Durchklingen so nicht auf der Gitarre zu realisieren ist. Auch ist die Unterscheidung von Legato- zu Bindebögen in der Notation nicht deutlich. Aber solche Probleme können im Unterricht thematisiert werden und helfen der Schülerin oder dem Schüler, Eindrücke zu erhalten, wie Komponisten, die selbst keine Gitarristen sind, für Gitarre schreiben.
Wer sich einen Klangeindruck verschaffen will: Auf der Homepage des Komponisten findet sich ein Link zu einer Aufnahme von Teilen des Stücks, gespielt von Stefan Barcsay, dem Obscuritas gewidmet ist.
Jörg Jewanskitd