© Simon van der Gathen

Stibi, Sonja

Out and about!

Neue Hör- und Spielräume im Sinne von Outreach

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2020 , Seite 06

Outreach bedeutet „hinausreichen über“ und zielt im Konzertbetrieb auf ein vielschichtiges Publikum und ­kulturelle Teilhabe. Bestehende Outreach-Formate von Orchestern und Konzerthäusern bieten auch Impulse für die Musikschularbeit.

Adventskonzerte im Seniorenheim, ein Sommer- und Weihnachtskonzert im Krankenhaus: Auftritte in sozialen Institutionen gehören schon seit Jahrzehnten selbstverständlich zum Musikschulleben. Diese Form musikbezogenen sozialen Engagements hat inzwischen auch das Konzertwesen erfasst. Im Bestreben um kulturelle Teilhabe, um Gewinnung eines vielschichtigen Publikums durch einen niedrigschwelligen Zugang zu Hochkultur und einer Begegnung auf Augenhöhe etabliert sich seit einigen Jahren Outreach, die aufsuchende, community-basierte Kulturarbeit, als neue Programminitiative. Während dieser Ansatz im angloamerikanischen Raum seit Mitte des 20. Jahrhunderts einen festen Bestandteil der Musikvermittlung von Orchestern, Konzerthäusern und Musiktheater bildet, finden sich bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum Outreach-Angebote im Programm deutschsprachiger Education-Abteilungen von Orchestern und Konzerthäusern. Doch in jüngster Zeit werden Formate, bei denen sich OrchestermusikerInnen gezielt „raus aus dem Elfenbeinturm, hinein in die Gesellschaft“1 bewegen, zunehmend populärer.

Outreach – was ist das?

Als Strategie gegen Benachteiligung und soziale Ausgrenzung zielt Outreach auf die Vergrößerung der Reichweite einer Kulturinstitution und die Erhöhung von Zugangschancen zu Kulturveranstaltungen und kultureller Bildung für möglichst breite Teile der Bevölkerung, besonders für jene, die von sich aus keine Kulturinstitution aufsuchen können oder wollen. Outreach hat seinen Ursprung in den USA und wird im Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftssektor eingesetzt. Bereits 1903 bot das American Museum of National History mit seinem „School Service“ erstmals Ausstellungselemente zum Verleih an. Durch die der Bürgerrechtsbewegung folgende neue Gesetzgebung fand Outreach in den USA ab 1954 weite Verbreitung.2 In Deutschland wurde es ab 1997 als Marketing-Instrument diskutiert. Seit 2008 etabliert sich Out­reach als strategisch entwickelter Ansatz zur aufsuchenden Kulturarbeit.3
Warum aber sollen Konzerthäuser und Orchester ihre Angebote überhaupt erweitern und die eigenen Wände verlassen, um neue Spielflächen zu erschließen und andere Hörräume zu öffnen? Ein zentraler Grund liegt in der Definition von Outreach selbst: Es ist notwendig und wichtig, mehr Menschen zu erreichen als jene, die von sich aus den Weg ins Konzert finden. Im eigenen Interesse müssen Kulturinstitutionen hier Brücken bauen, Zugangsbarrieren verringern und sich verändern, wenn sie für die Menschen und deren Leben relevant und für eine diverse Gesellschaft repräsentativ sein wollen. Anders gesagt: Es ist eine Frage der Haltung!
Für Outreach werden eine Reihe weiterer Begründungsmuster angeführt. Zuerst ist das seit vielen Jahren bestehende Audience Development zu nennen, eine strategische Kom­bination von Marketing, PR und Kulturvermittlung zur Steigerung der Publikumszahlen und der Ausdehnung der Diversität des Besucherspektrums in Bezug auf Alter, soziale Milieus und kulturelle Zugehörigkeit.
Outreach zielt auf einen niedrigschwelligen Zugang zu Kunst und Kultur. Dies meint einerseits Zugänglichkeit im Sinne von access durch Konzerte in Stadtteilen, durch mobile Angebote, um Musik im vertrauten Lebensumfeld der Menschen erfahrbar zu machen, und Finanzierbarkeit durch möglichst güns­tige Eintrittspreise. Andererseits meint Niedrigschwelligkeit den Abbau von Hemmschwel­len. Dies wird z. B. gewährleistet durch ein lo­ckeres Ambiente, das auf eine Kleiderordnung verzichtet, oder leichtere Einstiege in komplexe Themen mittels einer Programmgestaltung, die sich an den spezifischen Interessen der jeweiligen Zielgruppen orientiert.
Weitere Argumente und zugleich Zielsetzungen von Outreach sind Begegnungen auf Augenhöhe und die Identifikation mit der Kulturinstitution. Dafür bedient man sich unterschiedlicher Formate, die das Publikum in unterschiedlicher Weise beteiligen: von rezeptiv und interaktiv über partizipativ bis hin zu kollaborativer Einbindung. Je nach Format werden dabei nicht nur Zuhörsituationen generiert, sondern ebenso Möglichkeiten für gemeinsames Musizieren und persönlichen Austausch geschaffen.
Outreach ist daher weit mehr als nur eine Programminitiative oder Marketingstrategie in der Hoffnung auf gesteigerte Besucherzahlen. Es integriert Elemente von Audience Development, kultureller Teilhabe und sozialer Inklusion mit dem Ziel, Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft zu erlangen. Fokussiert wird die aktive Involviertheit von Menschen über die reine Rezeption hinaus. Als solches kann Outreach für beide Seiten einen Mehrwert bieten: für die Institution selbst wie für die adressierte Zielgruppe. Es bietet die Chance, neue Spielflächen und Hör-Räume zu erschließen, Türen zu öffnen und Menschen zu erreichen, die sonst weniger den Weg ins Konzert finden. Durch aktive Partizipation in gemeinsamen Musizierprozessen kann außerdem eine persönliche Bindung und Identifikation der Teilnehmenden mit „ihrem“ Orchester, Ensemble oder Konzerthaus initiiert werden.

Outreach-Formate

Outreach-Angebote bewegen sich stets im Spannungsfeld von Aufführung und Partizipation. Je nach Format steht die eine oder andere Ausrichtung im Vordergrund. Das Spektrum aktueller Formate umfasst im Wesentlichen vier Hauptformen:

Konzertante Formate
Konzertante Formate sind Schulkonzerte „on Tour“ und Stadtteil-Konzerte in der unmittelbaren Nachbarschaft. Diese sind als „Out­reach-Klassiker“ in fast jeder mittleren bis größeren Institution anzutreffen. Exemplarisch genannt seien die „Grätzl-Konzerte“ der Wiener Symphoniker oder die „PhilharmonieVeedel-Konzerte“ der Kölner Philharmonie.4 Mitmachkonzerte binden das Publikum als InterpretInnen ein, z. B. das Publikumsorchester der Tonhalle Düsseldorf5 oder „Symphonic Mob – Ihr spielt die Musik“ vom Deut­schen Symphonie-Orchester Berlin als Mitspielkonzert von Profis und Amateuren.6

Partizipative Formate
(Mobile) partizipative Formate betonen aktive Teilhabe, soziale Inklusion und gemeinsame Musizierprozesse in offenen Angeboten in einer Community oder sozialen Einrichtung. Dazu gehören auch mobile Programme und Spielstätten wie der „Musikwagen“ des Luzerner Sinfonieorchesters,7 das „MovINg Orchestra“ der Hamburger Symphoniker8 oder das „IMPULS Stadtteilprojekt“ des Gewandhausorchesters Leipzig.9 Diese zielen darauf, durch Projekte, Workshops und Konzerte Brücken zwischen Publikum, Klangkörper und MusikerInnen zu bauen.

1 Aufruf von Matthias Naske, Intendant des Wiener Konzerthauses, vgl. www.nzz.ch/feuilleton/raus-aus-dem-elfenbeinturm-rein-in-die-gesellschaft-ld.1358890 (Stand: 27.12.2019).
2 Ivana Scharf/Dagmar Wunderlich: „Museen und Out­reach“, in: Kulturelle Bildung-Online 2014, www.kubi-online.de/artikel/museen-outreach (Stand: 17.2.2020).
3 Julia Heisig: „Es hat sich viel getan – die neuesten Out­reach-Entwicklungen“. Blog-Beitrag 16.12.2016, www.museum-outreach.de/es-hat-sich-viel-getan-die-neuesten-outreach-entwicklungen (Stand: 27.12.2019).
4 www.koelner-philharmonie.de/philharmonie-veedel (Stand: 27.12.2019).
5 www.tonhalle.de/orchester/publikumsorchester (Stand: 27.12.2019).
6 www.symphonic-mob.de/content/e7692/e582/ e479/index_ger.html (Stand: 27.12.2019).
7 www.sinfonieorchester.ch/de/musikvermittlung/inklusion-soziales-engagement (Stand: 27.12.2019).
8 www.symphonikerhamburg.de/education/moving-­living-room-151 (Stand: 27.12.2019).
9 www.gewandhausorchester.de/hoehepunkte-201819/stadtteilprojekt (Stand: 27.12.2019).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2020.