Mahlstedt, Christopher
Pädagogische Sackgassen?
Anwendungsmöglichkeiten tiefenpsychologischer Konzepte für den Instrumentalunterricht
Wer kennt sie nicht, jene Unterrichtssituationen, die sich scheinbar zum x-ten Mal wiederholen? Wenn SchülerIn XY erneut zu spät zum Unterricht kommt, in der Passage mit den Sechzehnteln ständig nach vorne drängt oder sich selbst unterbricht, um der Lehrkraft zu erklären, was er oder sie immer falsch macht?1
Für diese oder ähnliche Phänomene bieten tiefenpsychologische Theorien Erklärungsansätze. So kann beispielsweise mit Hilfe des Konzepts der Übertragung nachvollzogen werden, dass die verinnerlichten Erfahrungen mit primären Bezugspersonen auf andere Menschen übertragen werden. Ganz gleich, ob positiv oder negativ, reaktualisieren sich solche Erfahrungen mit ihren Eigenarten auch im Instrumentalunterricht und werden mit dem unbewussten Wunsch nach einer Lösung wiederholt in Szene gesetzt.2
Die Beziehung zur Lehrperson ist hierbei von maßgeblicher Bedeutung für die musikalische und persönliche Entwicklung der SchülerInnen – auch und gerade, wenn es nicht rund läuft! Die tiefenpsychologischen Konzepte des Rahmens, der Übertragung sowie der Fehlleistungen können den Fokus auf das mitunter komplizierte Beziehungsgeschehen schärfen und Lehrkräfte anregen, schwierige Unterrichtssituationen besser zu verstehen und zu bewältigen.
Um die Anwendbarkeit von tiefenpsychologischen Konzepten auf den Kontext Instrumentalunterricht zu prüfen, möchte ich zunächst grundlegende Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie3 und Instrumentalunterricht aufzeigen.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Beide Bereiche lassen sich durch ihre spezifischen Rollenverhältnisse (SchülerIn/LehrerIn, PatientIn/TherapeutIn) unterscheiden. Eine Gegenüberstellung (siehe Tabelle) ermöglicht einen Überblick über die Tendenzen beider Fachrichtungen.
Neben grundlegenden Unterschieden gibt es bedeutende Gemeinsamkeiten von Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie als psychodynamisches Behandlungsverfahren und Instrumentalunterricht. Die folgenden drei Punkte werden anschließend vertieft:
– Der (äußere) Rahmen der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie5 ist vergleichbar mit dem Rahmen des Instrumentalunterrichts, dem eine Unterrichtsvereinbarung zugrunde liegt. Hierzu gehören die Vereinbarung von Zeit und Ort sowie Häufigkeit der Stunden, die Ausfallregelung und die Honorierung.
– Grundlage und Voraussetzung für einen gelingenden verbalen und musikalischen Austausch ist die Beziehung der jeweiligen Dyade.6 Hier treffen unterschiedliche Eigenarten und Beziehungsfähigkeiten, geprägt durch Übertragung und Gegenübertragung, aufeinander, welche über die Interaktion die Entwicklungsprozesse beeinflussen.7
– Die affektiven Erfahrungen in der Dyade und in Bezug auf das Thema oder die Musik können sowohl positiv als auch negativ sein. Ein Symptom der zumeist negativ-frustrierenden Erfahrungen sind die sogenannten Fehlleistungen.8
Rahmen
Der Rahmen der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und des Instrumentalunterrichts bildet eine wichtige Ausgangsbasis für Entwicklungsprozesse. So beginnt der Instrumentalunterricht mit dem Entschluss der SchülerInnen für den Unterricht bei einer Lehrkraft, nachdem die genannten Aspekte des Rahmens zuvor miteinander und gegebenenfalls mit den Erziehungsberechtigten besprochen wurden. Mitunter ist es erforderlich, die äußeren Parameter auszuhandeln. Wenn dies nicht ausreichend gelingt und zudem keine Passung der Dyade vorhanden ist, wird es vermutlich in der Folge immer wieder zu Absagen oder Verschiebungen kommen.
Die Aushandlung des Rahmens stellt einen wichtigen Schritt zur Etablierung eines Arbeitsbündnisses9 dar. Besonders in der Anfangsphase und bei Störungen des regulären Unterrichtsbetriebs ist es notwendig, auf gemeinsam getroffene Vereinbarungen verweisen zu können. Wenn es das „Wir-Gefühl“ der Vereinbarung als common ground nicht gibt, ist es wahrscheinlich, dass die Lehrkraft als rigide wirkend abgelehnt wird.10 Reines Regelbeharren reicht nicht aus, sondern erzeugt im Gegenteil oppositionelles Potenzial. Das folgende Beispiel soll dies zeigen.
Honorarrückforderung als Angriff auf den Rahmen und Wunsch nach Augenhöhe
Stellen wir uns vor, eine Schülerin sagt die Unterrichtsstunde kurzfristig ab und möchte, dass trotz überschrittener Absagefrist die bereits bezahlte Stunde erstattet oder nachgeholt wird. Je klarer eine Lehrkraft diesbezüglich auf die gemeinsam besprochene Vereinbarung rekurrieren und diese kommunizieren kann, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Schülerin Verständnis zeigen wird, dass ihre Forderung unberechtigt ist. Sollte dies nicht ausreichen und sich ein Konflikt zu verhärten drohen, gilt es zu prüfen, ob es eventuell Ursachen gibt, welche im Unterricht zu verorten sind und Anlass waren, nicht zum Unterricht zu erscheinen.
Könnte es sein, dass die Schülerin das Gefühl hat, nicht genügend von der Lehrkraft für das vorab geleistete Honorar zu bekommen und dass sie die Pflicht, die abgesagte Stunde dennoch zu bezahlen, als Bestrafung erlebt? Vielleicht sind die Unterrichtsinhalte auch mehr an den Vorlieben der Lehrkraft als an denen der Schülerin orientiert? Zunächst sollte dem Beziehungskontakt mittels Reflexion über die letzte Unterrichtsstunde, über die Gefühle zum Unterricht mit der Schülerin sowie den Themen und Anforderungen nachgespürt werden, bevor dann ein Gespräch erfolgt. Dies verändert temporär das „Kerngeschäft“ des Unterrichts, welches im musikalischen Austausch besteht, und ermöglicht beiden – nunmehr auf Augenhöhe –, den Unterricht miteinander auf den Prüfstand zu stellen oder über einzelne Elemente musikalisch unüberwindbar scheinender Hürden des Unterrichts zu sprechen.
1 Mein besonderer Dank gilt den KollegInnen, die mich bei den Korrekturen dieses Artikels unterstützt haben.
2 Argelander, Hermann: „Zur Psychodynamik des Erstinterviews“, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Heft 1, 1966, S. 40-53.
3 Wöller, Wolfgang/Kruse, Johannes: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Basisbuch und Praxisleitfaden, 4., aktualisierte Auflage, Stuttgart 2015.
4 Körner, Jürgen: „Abstinenz“, in: Mertens, Wolfgang/ Waldvogel, Bruno (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart 2000, S. 1.
5 Trimborn, Winfried: „Analytiker und Rahmen als Garant des therapeutischen Prozesses“, in: Psychotherapeut, 1994, 39. Jg., S. 94-103.
6 Dyade meint in diesem Kontext die Zweierbeziehung im Unterricht oder der Behandlung.
7 Buchholz, Michael/Gödde, Günter: „Balance, Rhythmus, Resonanz: Auf dem Weg zu einer Komplementarität zwischen ,vertikaler‘ und ,resonanter‘ Dimension des Unbewussten“, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Heft 9-10, 2013, S. 844-880.
8 vgl. Freud, Sigmund: „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, in: Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1916, S. 40-98.
9 Benecke, Cord: Klinische Psychologie und Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch, Stuttgart 2014, S. 454.
10 Buchholz, Michael B.: „In Psychotherapy ,Doing We‘ is more important than intervention“, in: Dimitrijevic, Aleksandar/Buchholz, Michael B. (Hg.): From the Abyss of Loneliness to the bliss of Solitude. Cultural, social, and clinical dimensions, London 2022, S. 319-340.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2025.