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Lange, Ralph

Persönliche Note

(Top)aktuelle Musik für SchülerInnen transkribieren

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 27

Was können wir tun, wenn sich SchülerInnen Songs wünschen, von denen es keine Noten oder gute Tutorials gibt? Dies ist gerade bei (top)aktuellen Stücken nicht selten der Fall. Dann bleibt oft nur der Weg, die Musik zu transkribieren.

Das Transkribieren ist für Pop/Rock-MusikerInnen schon lange ein zentraler Weg der Aneignung von Musik. Nicht wenige Schallplatten wurden in den 1970er Jahren ruiniert, weil Musikerinnen und Musiker sie 100-fach anhörten, um herauszufinden, wie eine bestimmte Stelle in einem Song gespielt wird. Zentrales Motiv war damals wie heute die Faszination für einen Künstler oder ein bestimmtes Musikstück. Heute gibt es zahlreiche Tools, die das Transkribieren erleichtern. Dazu gehören insbesondere Apps, die es erlauben, Musik bei gleichbleibender Tonhöhe verlangsamt abzuspielen – wie beispielsweise Any­tunes, Amazing Slow Downer oder Transcribe –, oder auch kostenlose Programme wie Reaper.
Wer als Lehrkraft seinen Unterricht mit aktueller Musik gestalten möchte, kommt um das Transkribieren meist nicht herum, denn gerade für (top)aktuelle Stücke gibt es oftmals keine Noten. Wenn SchülerInnen von sich aus einen Song mit in den Unterricht bringen und spielen wollen, ist dies ein Indiz für eine vorhandene intrinsische Motivation. Man kann jeder Lehrperson nur dringend empfehlen, diese Motivation aufzugreifen und achtsam zu behandeln. Andreas Doerne wies auf den bedeutenden Einfluss der Berücksichtigung von Lieblingsstücken im Unterricht hin, als er vom berechtigten „Anspruch des Schülers auf Beachtung und Einbeziehung seiner Lebenswelt, seiner musikalischen Vorlieben und individuellen Lernziele in den Unterricht“ schrieb.1
Durch das Transkribieren von Musik, die sich Schülerinnen und Schüler für ihren Unterricht wünschen, findet eine Individualisierung bzw. Differenzierung des Unterrichts statt. Der Unterricht erhält eine persönliche Note. Für Lehrkräfte kann ein Reiz darin bestehen, im Prozess dieser Differenzierung die homogenisierenden Aspekte des Spiels individueller Musikwünsche zu identifizieren und zu akzentuieren.2

Das Transkribieren von Musik vermittelt uns einen vom Hören her geleiteten Einblick in die Struktur der Musik.

Der Ausgangspunkt einer Transkription kann sehr unterschiedlich sein: Ein Saxofonist will z. B. ein Solo originalgetreu nachspielen, ein Pianist eine gesungene Melodie auf dem Klavier spielen und begleiten, eine Bassistin eine Basslinie originalgetreu oder reduziert nachspielen; manchmal wollen SchülerInnen auch einen Popsong singen und sich auf dem Klavier oder der Gitarre begleiten. Allerdings stimmen die Musikpräferenzen der Lehrenden oftmals nicht mit den Präferenzen der SchülerInnen überein. Und nicht selten ist Lehrkräften die Musik, die ihre SchülerInnen am liebsten hören, schlichtweg unbekannt. So wurde ich etwa von einer Schülerin mit der Tatsache konfrontiert, dass ein Stück, das ich selbst nicht kannte, auf YouTube sechs Milliarden Klicks erzielt hatte. Die Schülerin sprach daraufhin scherzhaft von einer „Bildungslücke“. Durch das Transkribieren von Stücken, die sich SchülerInnen wünschen, bzw. durch das vorhergehende Gespräch über ihre Lieblingsstücke entwickeln auch wir Lehrkräfte ein besseres Gefühl für die Musikpräferenzen unserer Schülerinnen und Schüler.
Das Transkribieren von Musik vermittelt uns einen vom Hören her geleiteten Einblick in die Struktur der Musik. Oft handelt es sich bei den Schülerwünschen um Musik aus bestimmten Genres, sodass wir beim Transkribieren bestimmte Phänomene dieser Genres besser kennen lernen. Dazu gehört zum Beispiel, dass zahlreiche populäre Gitarristen ihre Akkordstrukturen nicht auf funktionsharmonischen Prinzipien aufbauen, sondern sich die Harmoniestruktur aus einem Spiel mit Intervallen oder dem Experimentieren mit Griffen ergibt. Im Song Daydreamer von Adele wird z. B. ein recht einfacher Griff auf der Gitarre hin und her geschoben, sodass im Schlussakkord ein für einen Popsong kurios anmutender cis-Moll-Akkord mit D im Bass entsteht. Solche Erkenntnisse können an die SchülerInnen weitergegeben werden.

1 Andreas Doerne: „,…es hat so ganz viele Töne‘. Die ­Arbeit mit Lieblingsstücken als Ansatz für eine innova­tive Unterrichtspraxis“, in: üben & musizieren 3/2005, S. 6-12, hier: S. 6.
2 vgl. Franz Kasper Krönig: „Immer der gleiche Schüler? Sequenzielle Homogenisierung – Oder: Was kann der Einzelunterricht vom Gruppenunterricht lernen?“, in: üben & musizieren 6/2013, S. 46-49.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2022.