Göllner, Michael
Perspektiven eröffnen
Forschende Blicke auf musikpädagogische Praxis im IGP-Studium
„Inklusion“, „Teilhabe“ und spätestens seit der Covid 19-Pandemie auch „Digitalisierung“: Die „großen“ Begriffe, mit denen die Instrumentalpädagogik konfrontiert wird, scheinen immer dichter aufeinander zu folgen. Das wäre nicht weiter schlimm, stünden solche Begriffe nicht für gesellschaftliche und bildungspolitische Veränderungen, aufgrund derer sich die Bedingungen und Zielsetzungen der Musikschularbeit in den vergangenen beiden Jahrzehnten massiv verändert haben.1
Angesichts der damit verbundenen Herausforderungen wird es für Lehrende zunehmend wichtig, „Wissen auf sich verändernde und in hohem Maße ungewisse Situationen zu beziehen – also die Fähigkeit, dieses Wissen in Problemsituationen immer wieder kritisch zu überprüfen und kreativ weiterzuentwickeln“.2 Im Zusammenhang mit dem Hochschulstudium und der Professionalisierung angehender InstrumentalpädagogInnen wird entsprechend ein höherer Stellenwert von Reflexion gefordert, der vor allem mit zwei Aspekten in Verbindung gebracht wird: einer engen Verknüpfung von Theorie und Praxis3 sowie der Entwicklung einer Haltung, die idealerweise „bereits im Studium ein forschendes, potenziell auf das gesamte Berufsleben sich erstreckendes Lernen“4 ermöglicht. Wie ein solches forschendes Lernen konkret realisiert werden könnte, wurde bislang aber wenig diskutiert. Bildet ein künstlerisch-pädagogisches Studium überhaupt den geeigneten Rahmen, um forschende Perspektiven auf musikpädagogische Praxis zu entwickeln?
Forschendes Lernen in der Musikpädagogik
Der hochschuldidaktische Ansatz des forschenden Lernens ist nicht neu, wird aber seit einiger Zeit besonders intensiv im Bereich der Lehrerbildung verhandelt. Kurz gesagt beruht das Konzept auf der Idee, Studierende nicht bloß mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung zu konfrontieren, sondern ihnen die Gelegenheit zu geben, Forschung ganz oder zumindest partiell „(mit)zugestalten, [zu] erfahren und [zu] reflektieren“.5 Dabei geht es weniger darum, wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren oder den Umgang mit Forschungsmethoden zu erlernen. Angestrebt wird vielmehr, durch „das eigene Suchen und Finden, Problematisieren und Einsehen, ‚Staunen‘ und Erfinden, Untersuchen und Mitteilen“6 neue und ungewohnte Blickwinkel auf (vermeintlich) vertraute Praxis-Kontexte zu eröffnen.7
Bildet ein künstlerisch-pädagogisches Studium überhaupt den geeigneten Rahmen, um forschende Perspektiven auf musikpädagogische Praxis zu entwickeln?
Denn die Chancen stehen gut, dass dabei Anlässe zur Reflexion der eigenen didaktischen Überzeugungen und Prägungen entstehen.8 Idealerweise, so die Hoffnung, bahnt sich sogar eine forschende Haltung an, die es im späteren Berufsleben erleichtert, sich reflektiert und professional auf wechselnde Lehr-Lern-Kontexte einzulassen und die eigene Perspektive ebenso zu reflektieren wie die jeweiligen Rahmenbedingungen und Anforderungen.
In der Musikpädagogik wird forschendes Lernen besonders im Zusammenhang mit „Praxiserkundungen“9 und mit dem Praxissemester für das Schulfach Musik diskutiert.10 Im Kern geht es dabei darum, Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, eigene Fragestellungen zu entwickeln, die sie mit Blick auf ihre spätere Berufstätigkeit interessant finden und denen sie in Form kleinerer Forschungsprojekte nachgehen können. Diese Projekte finden in einem unterstützenden Rahmen statt und orientieren sich an wissenschaftlichen Verfahren.
Auf die Diskussion des Für und Wider eines solchen Praxissemesters verzichte ich an dieser Stelle.11 Interessant ist aber, dass die eingangs genannten drei Aspekte – die Anbahnung von Reflexionskompetenz, die Verknüpfung von Theorie und Praxis sowie die Entwicklung einer forschenden Grundhaltung – zentrale Orientierungen einer solchen Art forschenden Lernens darstellen. Ich halte es darum für lohnenswert, über Formate nachzudenken, die im Rahmen instrumentalpädagogischer Studiengänge gut funktionieren – sei es im Zusammenhang mit Musikschulpraktika, als Projektphasen in einzelnen Lehrveranstaltungen oder im Kontext von Qualifikationsarbeiten.12 Dabei liegt es natürlich nahe, zunächst an die Beobachtung oder die Videografie von Unterricht zu denken. Dass es stattdessen im Folgenden um Interviews mit Lehrenden und SchülerInnen geht, hängt damit zusammen, dass diese in der qualitativen musikpädagogischen Forschung13 eine wichtige Rolle spielen, als methodische Werkzeuge studentischer Praxisforschung in der IGP aber selten thematisiert werden.
1 vgl. Ivo Ignatz Berg: „Üben, Musizieren und Kooperieren. Zum Berufsbild und Selbstverständnis von Lehrenden der Instrumentalpädagogik“, in: Wolfgang Rüdiger (Hg.): Instrumentalpädagogik – wie und wozu? Entwicklungsstand und Perspektiven, Mainz 2018, S. 51-67.
2 Hans-Christoph Koller: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart 72014, S. 13.
3 Dass eine gegensätzliche Auffassung von „Theorie“ und „Praxis“ nicht unproblematisch ist, erläutert Silke Kruse-Weber näher in: „Instrumentalpädagogik im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Kollaborative Reflexion von Lehrenden im Musik(hoch)schulkontext“, in: Wolfgang Rüdiger (Hg.): Instrumentalpädagogik – wie und wozu? Entwicklungsstand und Perspektiven, Mainz 2018, S. 117-149.
4 Berg, S. 64; vgl. auch Rineke Smilde/Peter Alheit: „Biographisches Lernen in der professionellen Musikerausbildung. Aspekte lebenslangen Lernens in Musik“, in: Wilfried Gruhn/Peter Röbke: Musiklernen. Bedingungen – Handlungsfelder – Positionen, Innsbruck 2018, S. 269-291.
5 Ludwig Huber: „Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist“, in: Ludwig Huber/Julia Hellmer/Friederike Schneider (Hg.): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen, Bielefeld 2009, S. 9-35, hier: S. 11.
6 ebd., S.13.
7 Die Frage, welche Formen und Ansprüche dabei jeweils angemessen sind, wird kontrovers diskutiert (vgl. ebd.).
8 Die Forschung zum Lehrerberuf spricht in diesem Zusammenhang von subjektiven Theorien; vgl. Anne Niessen: „Musiklehrer/innen als lebenslange Lerner. Theorie und Praxis von Praxiserkundungen in der Musiklehrerausbildung“, in: Bernd Clausen/Christian Rolle/Anne Niessen (Hg.): Musikpädagogik vor neuen Herausforderungen. Beiträge und Berichte 2005 bis 2007, Bielefeld 2008, S. 95-110.
9 ebd.
10 Einen detaillierten Überblick über die Konzeption des Praxissemesters sowie Einblicke in exemplarische Studienprojekte bietet der Band von Kerstin Heberle/ Ulrike Kranefeld/Annette Ziegenmeyer (Hg.): Studienprojekte im Praxissemester. Grundlagen und Beispiele Forschenden Lernens in der Musiklehrer_innenbildung in Nordrhein-Westfalen, Münster 2019.
11 Erste Ideen für den IGP-Bereich hat Sebastian Herbst vorgestellt: „Kooperation üben. Zur Idee eines Praxissemesters für IGP-Studierende“, in: musikschule )) DIREKT, Supplement der Zeitschrift üben & musizieren 5/2017, S. 2-3.
12 Dass „Forschung“ in der Instrumentalpädagogik ein weites Feld umfasst und mit Konzepten wie dem forschenden Üben auch Nahtstellen zu künstlerischen Tätigkeiten aufweist, stellen Silke-Kruse Weber und Christina Marin detailliert dar: „Instrumentalpädagogik als Wissenschaftsdisziplin – Rahmenbedingungen und Entwicklungstendenzen“, in: Bernd Clausen/Alexander J. Cvetko/Stefan Hörmann et al.: Grundlagentexte wissenschaftlicher Musikpädagogik. Begriffe, Positionen, Perspektiven im systematischen Fokus, Münster 2016, S. 165-167.
13 Das Stichwort „qualitativ“ signalisiert, dass es dabei um empirisches Material geht, das erst interpretativ zugänglich gemacht werden muss. Aus Platzgründen kann weder diese Art Forschung noch das Forschungsinstrument Interview detailliert dargestellt werden. Ein Überblick findet sich bei Anne Niessen: „Möglichkeiten von Interviews in musikpädagogischer Forschung“, in: Maria Luise Schulten/Kai Stefan Lothwesen (Hg.): Methoden empirischer Forschung in der Musikpädagogik. Eine anwendungsbezogene Einführung, Münster 2017, S. 103-109.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2020.