Tschaikowsky, Peter I.
Pezzo Capriccioso op. 62
für Violoncello solo und Orchester, Klavierauszug, hg. von Wolfgang Birtel
Der Solist als König der Athleten! So könnte man, überspitzt, das Credo des Virtuosenzeitalters im 19. Jahrhundert zusammenfassen. Tritt ein solcher Athlet vor ein Orchester, so gelten Aufmerksamkeit und Scheinwerferlicht ihm allein. Die Bühne ist bereitet zum Zweck der Demonstration technischer Überlegenheit eines Einzelnen gegenüber der Masse.
Wurde von komponierenden Virtuosen eine solche Grundhaltung erwartet, so betrachtete man Komponisten, die in ihren Werken dem virtuosen Blendwerk auch dann zuarbeiteten, wenn dieses nicht für die eigenen Hände gedacht war, bisweilen kritischer.
Peter Tschaikowsky hat in seinen Solowerken etwa dem 1. Klavierkonzert und dem Violinkonzert durchaus unserer Eingangsmaxime gehuldigt und wurde dafür von Kollegen und der Fachkritik gescholten.
Ganz so schlimm dürfte es seinem Pezzo Capriccioso op. 62 nicht ergangen sein. Das einsätzige Werk für Cello (mit Orchester- oder Klavierbegleitung) spiegelt Tschaikowskys Vergnügen an entfesselter Instrumentalbrillanz wieder, zeigt jedoch in der Introduktion, die dem virtuosen Feuerwerk vorausgeht, auch die andere, tief elegische Seite des Komponisten. Interessanterweise entsteht der Höreindruck der Zweiteilung allein dadurch, dass ab Takt 99 die Zweiunddreißigstelnote zur prägenden Maßeinheit wird. Tschaikowskys Vermerk Non cambiare il tempo verweist ausdrücklich darauf, dass es sich nicht um eine langsame Einleitung mit anschließendem Presto handelt.
Das Pezzo Capriccioso entstand 1888 und ist dem Cellisten Anatoliy Brandukov gewidmet. Die Klavierversion erlebte im selben Jahr ihre Premiere, die Orchesterversion im Jahr 1889. Am Flügel und am Dirigentenpult begleitete jeweils der Komponist. Ähnlich wie im Fall der berühmten Rokoko-Variationen hat auch hier der Widmungsträger in die Gestaltung des Soloparts eingegriffen, in dem er einzelne, sowieso schon spektakuläre Passagen noch um diverse Umdrehungen bis hinauf zum dreigestrichenen h (und sogar um einen eingeschobenen Takt) erweiterte. Diese Eingriffe sind in den Erstdruck eingegangen und wurden in den gängigen Ausgaben bis heute tradiert.
Die vorliegende, von Wolfgang Birtel edierte Neuausgabe macht sichtbar, was Tschaikowsky ist und was Brandukov. In der Cellostimme und im Klavierauszug sind an den entsprechenden Stellen beide Versionen übereinander wiedergegeben. Auch zwei Varianten im Solopart, die vom Komponisten stammen, wurden in die Ausgabe integriert, was zur Folge hat, dass uns für insgesamt sieben Takte des Werks sogar drei verschiedene Versionen angeboten werden.
Wer eine textgenaue, zuverlässige Ausgabe des Pezzo Capriccioso wünscht, sollte diejenige der Ponticello Edition wählen. Zudem dürfen sich Kammerorchester freuen: Wolfgang Birtel hat in diesem Verlag auch eine Bearbeitung für Streichorchester vorgelegt.
Gerhard Anders