Dahlhaus, Bernd

Plädoyer für die Zwickmühle

Selbstmanagement für Instrumentalpädagogen – Teil 2

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 1/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 06

– Im Gruppenunterricht wollen die Schüler etwas anderes tun, als die Lehrerin geplant hat.
– In einer Freistunde kann eine festangestellte Posaunenlehrerin endlich mit der Organisation des schon bald anstehenden Schülervorspiels beginnen oder die Stücke für die nächste Mucke üben.
– In einer schwierigen privaten Lebens­situation, in der es angezeigt ist, sich mehr Zeit für sich selbst zu nehmen, kommt die Anfrage der Musikschulleitung an die Honorarkraft, eine Unterrichtsvertretung für eine für längere Zeit erkrankte Kollegin zu übernehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
belastende Situationen im Instrumental­pädagogikberuf können ganz unterschiedlich beschrieben werden. Häufig erleben wir solche Situationen als Zwickmühle. Mit dieser Metapher ist gemeint, dass von zwei möglichen Handlungsalternativen we­der die Wahl der einen noch der anderen das Problem insgesamt zufriedenstellend lösen würde:
– Als Lehrerin möchte ich aus guten Grün­den meiner Unterrichtsplanung folgen und gleichzeitig nicht über die Wünsche und Motivation der Schüler hinweggehen.
– Als Posaunenlehrerin freue ich mich auf die Mucke und möchte musikalisch eine gute Leistung bringen und gleichzeitig meinen Pflichten als Musikschulangestellte nachkommen.
– Weil für mich als Honorarkraft meine Arbeitsfähigkeit langfristig meine wichtigste Ressource ist, möchte ich diese pflegen und nähren und gleichzeitig muss ich ein bestimmtes Mindeststundenvolumen unterrichten, um kurzfristig meine Existenz zu sichern.
Sich selbst in einer Zwickmühle zu erleben, ist je nach Bedeutsamkeit der Situa­tion für den Betreffenden unangenehm und im Extremfall sehr leidvoll. Wie die unbeliebte Zwickmühle im Rahmen eines guten Selbstmanagements für Instrumentalpädagogen1 als hilfreiche Denkfigur genutzt werden kann, möchte ich in diesem Beitrag erläutern.

Kleine Zwickmühlenkunde

Allgemein bezeichnet eine Zwickmühle (von althochdeutsch zwi = zwei) wie auch das griechische Wort Dilemma („Zweigliedrigkeit“) eine Situation mit zwei (meist widersprüchlichen) Handlungsalternativen, die beide nicht zum gewünschten Ziel führen und das Problem aufrechterhalten. Weil man der Handlung nicht ausweichen kann, wird die Situation als ausweglos und meist als leidvoll erlebt.
In der Persönlichkeitspsychologie wird die Zwickmühle in Bezug auf Handlungsentscheidungen einer Person als Ausdruck zweier (oder auch mehrerer) widersprüchlicher innerer Bedürfnisse konzeptualisiert. Das bekannteste Modell hierzu ist das „Innere Team“ von Friedemann Schulz von Thun.2 Dieses Modell personifiziert menschliche Bedürfnisse als verschiedene Anteile der Persönlichkeit, die sogenannten „Teammitglieder“, benannt beispielsweise als „der Genießer“, „der Antreiber“, „der Clown“ oder „der Beamte“. Diese Teammitglieder können dann intrapsychisch in einen virtuellen Dialog gehen und so Lösungsideen bzw. Handlungsentscheidungen „aushandeln“.
Grundlage dieser Art von Konzepten ist ein humanistisches Menschenbild, das von einer kommunikativ getragenen Sozialkompetenz des Menschen ausgeht: Menschen wollen und können sich verständigen, untereinander in Gemeinschaft und auch intrapersonal mit sich selbst. Des Weiteren gehen die Konzepte davon aus, dass Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit wesentlich zum Menschsein gehören. Menschliches Denken, Fühlen und Handeln ist komplexer, als dass es sich in einer Entweder-oder-Logik, einer Logik, nach der Maschinen in der Regel zuverlässig funktionieren, abbilden lässt. Die Ausrichtung nach einer vermeintlich eindeutigen und allgemein gültigen „Richtig-falsch“-Unterscheidung ist zwar verständlich – soll sie doch die erhoffte innere Sicherheit bieten –, führt aber im menschlichen (Zusammen-)Leben früher oder später unweigerlich zum Scheitern.
Es ist deshalb ein Zeichen von Intelligenz und Rationalität, Ambivalenzen und Paradoxien als „Normalfall“ anzusehen. Statt vergeblich nach einem endgültigen „Richtig“ zu suchen, gilt es zu üben, Mehrdeutigkeiten, Uneindeutigkeiten und Widersprüche in die eigene Handlungsplanung zu integrieren, mit ihnen zu rechnen, sich mit ihnen soweit möglich sicher zu fühlen und sie womöglich sogar zu nutzen.
Ein gutes Beispiel hierfür ist auf der Ebene der staatlichen Gesellschaftsform die parlamentarische Demokratie. Auch hier wird konstruktiv mit Unterschieden und Widersprüchen umgegangen und um Hand­lungsentscheidungen gerungen – und man müsste sich erst recht Sorgen machen, wenn diese einstimmig getroffen würden. Und im Gesellschaftsspiel „Mühle“ macht interessanterweise gerade die Zwickmühle als wesentliches Spielphänomen den Reiz des Spiels aus. Nur: Im menschlichen Miteinander lebt es sich besser, wenn eine Win-win-Situation gelingt.

Zwickmühlen als Ressource nutzen

Erlebe ich mich in einer problematischen Situation, kann mir die Denkfigur der Zwickmühle helfen, aus dem oft diffusen Problemerleben herauszutreten. Halte ich inne, kann ich, statt im Problem gefangen zu sein, dieses von außen betrachten. Indem ich überlege, welche inneren Anteile (= Bedürfnisse) sich im Problemerleben melden und wie sie überhaupt erst den inneren Konflikt gestalten, kann ich mir bewusst machen, was ich brauche, um wieder handlungsfähig zu werden.
Dabei ist es zunächst sehr entlastend, meinen Bedürfniswiderspruch anzunehmen und anzuerkennen. Dies nicht nur kognitiv-rational mit einem Gedanken, den ich innerlich zu mir spreche, sondern auch mit emotionaler Anteilnahme und Selbstwertschätzung. Sind an meiner erlebten Zwickmühlensituation auch andere Menschen beteiligt, kann ich weiterhin mit ehrlich gemeinten, wertschätzenden Worten meinen inneren Konflikt offen machen. Indem ich den anderen auf diese Metaebene mitnehme, lade ich ihn gleichzeitig dadurch ein, eine Mitverantwortung für das gelingende Miteinander zu übernehmen. In der Regel ergeben sich hieraus dann neue Einsichten und (Handlungs-) Ideen.
Eine Zwickmühle im instrumentalpädagogischen Beruf bzw. im Unterricht zu identifizieren und in dieser Weise zu nutzen, stärkt das Gefühl von Selbstsicherheit und Selbstwirksamkeit. Und öffne ich mich dem anderen, indem ich ihm meine inneren Denk- und Fühlprozesse mitteile, bewirkt dies nach meiner Erfahrung eine deutliche Stärkung der Beziehungsebene.

Beispiel für eine Zwickmühle

Ein Zwickmühlenbeispiel mit „mittlerem Schwierigkeitsgrad“ möge idealtypisch einen Eindruck von der praktischen Anwendung vermitteln:
Im Elterngespräch fordert ein Schülervater nachdrücklich von mir, dass ich seinem Sohn „mehr Druck mache, damit er endlich in die Gänge kommt“. In der Gesprächssituation bemerke ich in mir aufkeimenden Widerstand. Ich kann die Haltung des Vaters schlecht aushalten, werde innerlich unruhig und habe den Drang, meine Auffassung entgegenzuhalten. Statt jedoch vorschnell meinem inneren Widerstand Luft zu machen und zu einer in den Auswirkungen nicht hilfreichen Entgegnung anzusetzen, halte ich inne und nehme mir ein paar Sekunden Zeit zur inneren Klärung.
Ich erinnere mich daran, dass keine Auffassung „richtiger“ oder wertvoller als eine andere sein kann, sondern immer nur die aus der jeweiligen Perspektive überaus verständlichen Bedürfnisse widerspiegelt. Alle Beteiligten (Gesprächspartner bzw. deren Bedürfnisse) sind gleichberechtigt und verdienen ehrliche Wertschätzung. In meinem inneren Konflikt melden sich zwei Bedürfnisse: Einerseits möchte ich auf den Schülervater eingehen, sein Anliegen hinter der Forderung ernst nehmen. Mein inneres Anliegen/Bedürfnis ist: vom Schülervater als Experte wertgeschätzt und anerkannt zu werden, mit ihm im guten Kontakt zu sein. Andererseits möchte ich aus meinem pädagogischen Selbstverständnis als Begleiter und „Ermöglicher“ heraus keine „Druckmethoden“ anwenden. Mein inneres Anliegen/Bedürfnis ist hier: mir selbst treu bleiben, authentisch für meine Überzeugung eintreten, im besten Fall den Vater für einen Perspektivwechsel gewinnen.
Dabei kann ich dem Vater in seiner Absicht hinter der Forderung durchaus zustimmen: Er möchte genauso wie ich, dass sein Sohn etwas lernt und Fortschritte macht (und vermutlich möchte der Sohn selbst das ebenso). Um das zu erreichen, sieht der Vater allerdings nur (noch) die Möglichkeit, dies mit den Sohn fremd­bestimmenden Maßnahmen zu erreichen. Dieser Klärungsmoment hilft mir, eine förderliche Anschlusskommunikation zu formulieren:
„Herr Schmid, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen und mir Ihre Wünsche mitteilen. Ich kann gut verstehen, dass es Ihnen wichtig ist, dass Ihr Sohn Fortschritte macht. Sie zahlen ja auch die Unterrichtsgebühr und wollen berechtigterweise dafür eine hörbare Gegenleistung. Allerdings habe ich jetzt eine innere Zwickmühle: Ich schätze sehr, dass Sie sich so für Ihren Sohn und seinen Unterricht einsetzen und ich empfinde das als großes Vertrauen Ihrerseits, dass Sie mir die musikalische Ausbildung Ihres Sohnes anvertrauen. Und deshalb möchte ich einerseits Ihren berechtigten Wunsch sehr ernst nehmen und ihm auch entsprechen.“
Während ich dies sage, bin ich dem Vater gegenüber sehr achtsam und halte guten Blickkontakt. Ich mache eine Pause, um anhand seiner Signale zu überprüfen, ob der Vater gedanklich und emotional „mitgeht“, ob ich von ihm ein „inneres Ja“ bekomme. Nur dann fahre ich fort:
„Andererseits weiß ich aus meiner eigenen Lernbiografie und aus meiner 20-jährigen Unterrichtserfahrung, dass Druck in Menschen Stress auslöst und letztlich bewirkt, dass das Lernen noch viel schwieriger wird. Dafür gibt es auch in der wissenschaftlichen Lernforschung viele Belege. Ich kann gut verstehen, dass Sie sich für Ihren Sohn wünschen, dass er gut lernt und eine gute Grundlage für sein späteres Leben legt. Manchmal ist das ja auch schwer mit anzusehen, dass da scheinbar bei ihm nichts in der Richtung passiert. Wissen Sie, ich erlebe Ihren Sohn ja einmal in der Woche und ich schätze an ihm sehr, dass er … und glaube, dass Musik für ihn … bedeutet.
Gerne würde ich Ihre Meinung dazu einbeziehen, wie ich als Experte im Unterricht seine Talente so nutzen kann, dass für ihn insgesamt ein Fortschritt leichter möglich wird. Ich möchte nämlich meinem Auftrag als Lehrer gerecht werden und ich versichere Ihnen, dass ich dank meiner Ausbildung den Unterricht auf die bestmögliche Weise gestalte. Dafür würde ich mich über Ihre begleitende Unterstützung freuen. Ich hätte da ein paar bewährte ­Ideen, wie Sie als Vater auch zuhause dazu beitragen können, dass Ihr Sohn … Wären Sie denn an den Ideen interessiert?“ (Je nach Gesprächsverlauf wäre alternativ auch möglich: „Wenn Sie an meiner Stelle wären, wie würden Sie diese Zwickmühle lösen? Wie würden Sie als Lehrer einerseits einem engagierten Vater gerecht werden und andererseits nicht gegen Ihr Fachwissen als Experte handeln?“)

Im guten Kontakt mit sich selbst bleiben

Nach meiner Erfahrung hilft die „Zwickmühlenfigur“, den Stress, der in konflikthaften Situationen entsteht, zu reduzieren und leicht(er) aus dem Problemerleben herauszukommen. Im Gegensatz hierzu verstärkt der leider weit verbreitete „Ja, aber“-Modus meist den Konflikt. Hier geht es nur darum, den anderen mit den vermeintlich stärkeren Sachargumenten von der eigenen „richtigen“ Auffassung zu überzeugen. Das Gewinnen-Wollen ist stärker als die Achtsamkeit und die Wertschätzung sich selbst und dem anderen gegenüber. Dabei geht die innere Ausrichtung, im guten Kontakt mit sich und mit anderen zu sein, verloren. Diese Haltung ist jedoch Voraussetzung für Kompetenz­erleben und Potenzialentfaltung, für ein insgesamt erfolgreiches künstlerisch-pädagogisches Handeln und bedeutsamer als alle Methoden, mit denen wir als Instrumentalpädagogen arbeiten.

1 Zu einführenden Überlegungen zum „Selbst­management für Instrumentalpädagogen“ siehe den ersten Teil: „Der Musiklehrerberuf als Pas­sion?!“ in: musikschule )) DIREKT. Supplement zu üben & musizieren 6/2013, S. 7-9.
2 Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden, Band 3: Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation, Reinbeck 1998. Weitere Modelle sind das „Innere Parlament“ von Gunther Schmidt (siehe *) und die „Voice Dialog“-Metho­de von Hal und Sidra Stone. In der Kommunika­tionspsychologie wird die Zwickmühle mit der Doublebind-Theorie erklärt.