Doerne, Andreas

Pop ist Kunst.

Eine Spurensuche

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2014 , Seite 06

Jahrzehnte nach ersten Initiativen, Popmusik als wichtigen Inhalt von Musik- und Instrumentalunterricht zu etablieren, läuft das Genre immer noch Gefahr, von MusikpädagogIn­nen missverstanden zu werden. So geschieht es nach wie vor, dass Popmusik allein aus Gründen einer vermeintlichen Schülerorientierung heraus abgehandelt oder anderweitig für pädagogische Zwecke missbraucht wird. Die Frage nach Merkmalen guter Popmusik, nach dem künstlerischen Eigen­wert popmusikalischen Musizierens, danach, was man können und tun muss, um popmusikalische Qualität zu gene­rieren, bleibt dabei unbeantwortet oder wird gar nicht erst gestellt.

Von der Popmusik zu sprechen, ist eigentlich unzulässig, zerfällt die Musikrichtung doch in so viele Genres, Untergenres und Stile, die manchmal auch noch völlig konträre Selbstverständnisse aufweisen und zueinander inkompatiblen ästhetischen Prämissen folgen, dass selbst Experten eine Kartografierung des Geländes schwerfällt. Auch ist der Begriff der Popmusik überhaupt umstritten:
– Bezeichnet er eine Musik, die von einer großen Anzahl Menschen gemocht und also gehört wird? Entscheidet also die bloße Anzahl der HörerInnen darüber, was als Pop­musik gilt und was nicht? Ab welcher Hörerzahl soll man dann quantitativ die Grenze von Pop zu Nicht-Pop ziehen?
– Geht es eher um die Funktion, für die eine Musik geschrieben wird (Stichwort „Unterhaltungsmusik“)? Oder ist vielleicht die mit einer bestimmten Musik vermeintlich verknüpfte Hörhaltung gemeint, beispielsweise ein konzentriertes Hören im Konzertsaal versus dem Nebenbeihören beim Kochen?
– Oder aber liegt der terminologische Fokus auf dem Volksmusikhaften (engl. popular = volkstümlich), bezeichnet Popmusik also die traditionelle Musik eines Volkes?
Seit etwa 30 Jahren gibt es eine ausgewie­sene akademische Popularmusikforschung, die Antworten auf solche Fragen entwickelt.1 Doch sind diese häufig genauso disparat wie das untersuchte Objekt selbst. Zudem beschränkt sich der Wirkungskreis von Popularmusikforschung fast ausschließlich auf den universitären Bereich. Die in dieser Eigenwelt generierten Erkenntnisse verbleiben meistens auch dort.
Trotz berechtigter Bedenken möchte ich im folgenden Text den verallgemeinernden Begriff der Popmusik verwenden.2 Denn mir geht es hier nicht um musikstilistische und begriffliche Differenzierung, sondern um das Herausstellen von elementaren Gemeinsamkeiten, darum, jene künstlerischen Prinzipien aufzuzeigen, die stilübergreifend das Fundament von Popmusik sind und die entsprechend eine Basis bieten, Popmusik und popmusikalisches Musizieren von einer künstlerischen Perspektive aus zu verstehen.
Meine Ausführungen werden für Sie besser nachvollziehbar, wenn Sie sich zunächst ein Video des Gitarristen und Singer/Songwriters John Mayer (siehe Foto) anschauen: Es handelt sich um eine Live-Performance seines Songs Neon, die einige der im Folgenden beschriebenen Merkmale künstlerisch anspruchsvollen popmusikalischen Musizierens beispielhaft veranschaulicht.3 Anschließend möchte ich weitere Prinzipien von Popmusik aufzeigen, die für ein Verständnis des Künstlerischen im Pop wichtig sind. Folgerichtig gehe ich in diesem Text von echter Pop­musik aus, nicht von jenem für Unterrichtszwecke aufbereiteten Substitut, das – seiner Identität beraubt – kaum mehr erkennen lässt, was es seinem Wesen nach einmal war.

Groove

Das eindeutigste Indiz für popmusikalische Qualität ist – wie sollte es anders sein? – mit einem Begriff bezeichnet, der uneindeutig ist. Ob eine Musik groovt oder nicht, hört man recht schnell. Wie genau jedoch ihr spezifischer Groove zustande kommt, lässt sich nur mit einer gewissen Ungenauigkeit formulieren. Fest steht: Groove bezeichnet die körperlich animierende Kraft einer Musik. Er zeigt sich in der Verkörperung des Musizierenden und zielt ab auf die Körperlichkeit der Zuhörer. Groove durchpulst sowohl Musiker als auch Zuhörer, nimmt sie in Beschlag, lässt sie sich synchron, aber individuell zur Musik bewegen und stellt so eine Art archaischen Unterbau von Popmusik dar. Groove ist immer Rhythmus, aber nicht jeder Rhythmus ist automatisch Groove.

1 Im deutschsprachigen Raum sind dies etwa der Arbeitskreis Studium Populärer Musik e. V. (www.aspm-online.org) sowie das an der Humboldt-Universität ­Berlin ansässige Forschungszentrum Populäre Musik (www.fpm-humboldt.eu) mit der von dort herausgegebenen Schriftenreihe PopScriptum (www2.hu-berlin.de/ fpm/popscrip/index.htm). International agiert z. B. die in Liverpool ansässige International Association for the Study of Popular Music (www.iaspm.net), die ebenfalls online eine Schriftenreihe publiziert, das IASPM@Journal (www.iaspmjournal.net).
2 vgl. Peter Wicke: „,Populäre Musik‘ als theoretisches Konzept“, in: PopScriptum 1/92, S. 6-42. Dort führt ­Wicke aus: „Der Begriff ‚populäre Musik‘ ist, wie die meisten Genre- und Gattungsbezeichnungen in der ­Musik, nichts anderes als ein sprachliches Etikett, das komplexen und historisch veränderlichen Phänomenen zur Vereinfachung der Verständigung angeheftet wird. Insofern gibt es gar keine andere Wahl, als solche einmal eingebürgerten Termini zu akzeptieren, sollen die­jenigen konkreten historischen und musikalischen Sachverhalte reflektiert und referiert werden, in denen diese Begriffe entstanden sind…“
3 John Mayer: Where the Light Is – John Mayer live in Los Angeles, Sony Music Entertainment 2008 (Blu-ray, DVD oder Audio-CD). Neon erscheint dort als erster Song des Konzertabends.

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