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Gerards, Marion / Elke Josties

Potenziale professioneller Kooperation

Musik und Soziale Arbeit: Musikschulen sollten sich stärker in den Bereich der nonformalen musikalischen Bildung einbringen

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 1/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Der Stellenwert von Musik in Handlungs­feldern der Sozialen Arbeit ist hoch: Die offene Jugendarbeit ist ohne Angebote der Musikförderung kaum denkbar, in Einrichtungen der Altenhilfe gibt es Sing­kreise, in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen spielt Musik eine gro­ße Rolle und zahlreiche Musikprojekte mit geflüchteten Menschen sind ins Leben gerufen worden – die Aufzählung ließe sich sicherlich noch ergänzen.

Viele dieser Angebote werden von SozialarbeiterInnen, ErzieherInnen, aber auch von Musik- und InstrumentalpädagogInnen oder MusikerInnen durchgeführt, zuweilen auch in Kooperation. Dies ist umso erfreulicher, da die besonderen Herausforderungen von musikalischer Praxis in sozialen Handlungsfeldern nur durch interdisziplinäre Perspektiven und durch eine von gegenseitigem Verständnis geprägte Kooperation der verschiedenen Professionen gemeistert werden können.
Aber zuweilen herrscht Unklarheit darüber, warum und wie Musik überhaupt in der Sozialen Arbeit verankert ist. Im Folgenden soll daher der Ansatz von Sozialer Arbeit mit Musik erläutert und von dem der Musikpädagogik abgegrenzt werden, um anschließend die Bedeutung professioneller Kooperationen darzulegen. Schließlich sollen Schnittmengen von Themenfeldern auch im Bereich der Forschung aufgezeigt werden: Denn nur wenn wir voneinander wissen, können wir von- und miteinander ler­nen, um verantwortungsvoll eine vielfältige Musikpraxis zu fördern.

Soziale Arbeit mit Musik

Die International Federation of Social Wor­kers hat 2014 Soziale Arbeit folgendermaßen definiert: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit.“1
Versteht man auf der Basis dieser Defini­tion Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession,2 dann geraten auch Kunst und Kultur als Handlungsfelder in den Fokus, denn es heißt in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Bildung“, und in Artikel 27: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“ Des Weiteren ist in § 11 des Kinder- und Jugendhilfe­gesetzes festgehalten, dass auch Kulturelle Bil­dung zu den Schwerpunkten der Jugendarbeit gehört, und die UN-Behindertenrechtskonvention hat das Recht auf kulturelle Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen ver­ankert.
Ausgehend von dieser Rechtslage ist Soziale Arbeit immer dann gefordert, wenn bestimmten Personengruppen das Recht auf (musikalische) Bildung und kulturelle Teilhabe verwehrt oder erschwert wird. Es geht im Sinne des kulturellen Mandats der Sozialen Arbeit3 um kulturelle Teilhabe und Teilgabe,4 um Partizipationschancen und erweiterte Aneignungsmöglichkeiten von kulturellen Angeboten sowie um eine kompetent unterstützte künstlerische Eigenproduktivität bisher benachteiligter Per­sonengruppen. Soziale Arbeit wird so zu einer Akteurin im weiten Feld der Kulturellen Bildung.
Bezogen auf die Musik bedeutet dies, dass der Ansatz der Sozialen Arbeit mit Musik ein ganzheitlicher ist, der die Person mit ih­ren Rechten und in ihren Benachteiligungs­erfahrungen in den Mittelpunkt stellt und die Vielfalt der verschiedenen musikalischen Ausdrucksformen aller Genres, Gattungen und Szenen anerkennt: Auf der Basis von Theorien und Konzepten, die der Sozialen Arbeit zugrunde liegen (z. B. Lebensweltorientierung, Empowerment, Capability Approach), und unter Bezugnahme auf musikpädagogische und gegebenen­falls auch musiktherapeutische Konzepte und Methoden fokussiert eine soziale Musikarbeit den Menschen und nicht primär eine musikalische Ausbildung.
In dieser anthropologischen Grundausrichtung will Soziale Arbeit mit Musik den rezipierenden und produzierenden Zugang zur Musik auch benachteiligten Personengruppen ermöglichen und Menschen durch musikbezogene Praxis in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und bei der Bewältigung biopsychosozialer Problemlagen unterstützen. Demgegenüber geht es in musikpädagogischen Kontexten vorrangig um die Vermittlung musikalischer Fähigkeiten und Fertigkeiten, wobei soziale und subjektbezogene Aspekte zweifellos auch im musikpädagogischen Handeln berücksichtigt werden. Ein so verstandenes soziales Mandat der Musikpädagogik weist durchaus Schnittstellen zum kulturellen Mandat der Sozialen Arbeit auf.

„Wo bleibt denn da die Musik?!“

Soziale Musikarbeit sieht sich häufig dem Vorwurf ausgesetzt, wo denn da die Musik bleibe und ob die in ihren Zusammenhängen produzierte Musik überhaupt ästhetischen Ansprüchen genüge. Dieser Skepsis begegnet man in der Sozialen Arbeit mit einem weiten Musikbegriff und Musika­litätsverständnis, die „jede Gestalt klang­licher Ereignisse, die für die Adressatinnen und Adressaten ästhetisch und biografisch bedeutsam ist“,5 anerkennen und wertschätzen.
Wenn beispielsweise alte Menschen in einem Chor-Projekt zusammen singen oder Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen in einer Band zusammen spielen, so ist der klangliche Ausdruck sicherlich ein anderer als der eines Opernchors oder einer Mainstream-Band. Aber ist dieser andere Klang deswegen weniger bedeutsam oder ästhetisch weniger wertvoll, nur weil er vielleicht („hoch“-)kulturell postulierten Normen, Qualitätsmaßstäben und (Hör-) Gewohnheiten nicht entspricht? Wenn Men­schen sich musikalisch ausdrücken und davon berührt werden, dann kann von einer grundlegenden Musikalität gesprochen werden, die nicht auf virtuose Fähigkeiten beim Singen oder am Instrument oder auf musiktheoretische Kenntnisse zu reduzieren ist. Und in der Regel wird auch das Publikum von dieser „anderen“ Musik ästhetisch angesprochen, was beispielsweise am Erfolg von Young@Heart6 oder Station 177 zu erkennen ist. Und selbstverständlich werden in Musikprojekten immer auch musikalische Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt und das Wissen über Musik erweitert.

Potenziale professioneller Kooperation

Die Musikpädagogik im Allgemeinen und Musikschulen im Speziellen sehen sich aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber, wenn sie beispielsweise der kulturellen Vielfalt, dem Inklusionsgedanken oder dem demografischen Wandel gerecht werden wollen. Will man aber mit Menschen musizieren, die aufgrund von Alter oder Behinderung individuell eingeschränkt sind oder die traumatische Flucht­erfahrungen machen mussten, dann sollte man neben den musikpädagogischen Fähigkeiten auch über ausreichende Kenntnisse in sozialer Gruppenarbeit und gruppendynamischen Prozessen, über Behinderungsformen oder über den Umgang mit traumatisierten Menschen und gegebenenfalls auch über Techniken der Krisenintervention verfügen. Außerdem sind Kompetenzen und eine reflektierte Haltung im Umgang mit kulturellen Differenzen von Belang, um in der musikalischen Praxis Alltagsrassismen, Stereotypisierungen oder Kulturalisierungen zu vermeiden. Kompetenzen in Bezug auf eine gendersensible musikalische Praxis und inklusive Pädagogik tragen zu einer adressaten- und lebensweltorientierten Grundhaltung bei.
Da dies alles in Personalunion kaum von einer musikpädagogischen Fachkraft zu be­wältigen ist und SozialarbeiterInnen zwar die oben genannten Kompetenzen, aber nur in den seltensten Fällen auch umfassende musikpädagogische Kompetenzen besitzen, empfiehlt sich in Musikprojekten, die in sozialen Handlungsfeldern angesiedelt sind, eine professionelle Kooperation in einem interdisziplinären Team. Die MusikpädagogInnen sind in diesen Teams die Fachleute für die musikalischen Prozesse, während SozialarbeiterInnen die Pro­fis für die sozialen, gruppendynamischen Prozesse und für die adäquate Begleitung der AdressatInnen aus einer an den Menschenrechten und den Lebenswelten orientierten Perspektive sind.
Doch leider bringen sich Musikschulen eher selten in offene, community-orientierte Settings der musikalischen Bildung ein, beispielsweise in der offenen Jugendarbeit, in Nachbarschaftszentren oder Altentagesstätten. Trotz vielfältiger Kooperationen mit Kindertagesstätten und Schulen bedarf es vermehrt der Kooperationen im Bereich der nonformalen musikalischen Bildung. Neben der Behebung struktureller Schwie­rigkeiten müssten InstrumentalpädagogInnen an den Musikhochschulen stärker mit Methoden der Gruppenarbeit – auch mit heterogen zusammengesetzten Gruppen – vertraut werden, wie sie bereits in sogenannten Community Music-Projekten verbreitet sind. Interdisziplinäre Weiterbildun­gen könnten zum Erreichen des Ziels vielfältiger musikalischer Bildungslandschaften förderlich sein.8
Bereits auf der Ebene professioneller Ausbildung bieten sich hochschulische Kooperationsprojekte, inter- und transdisziplinäre Hochschulseminare und die interdisziplinäre Betreuung von Abschlussarbeiten im Bereich der musikkulturellen Bildung an. Hier scheitern Kooperationen auf Augenhöhe, solange der Sozialarbeitswissenschaft nur eingeschränktes Promotionsrecht gewährt wird. Die deutsche Hochschullandschaft hinkt im internationalen Vergleich (vor allem mit anglo-amerikanischen Ländern) hinterher, wenn es um die Förderung von inter- und transdisziplinären Ansätzen geht – dies gilt auch für die bisher zu wenig systematisch genutzten Potenziale der Kooperation von Musikpädagogik und Sozialer Arbeit.

Praxisentwicklung und Forschung

Aus einer interdisziplinären Zusammen­arbeit ergeben sich gemeinsame Themen für die Praxisentwicklung und Forschung. So muss überlegt werden, wie musikkulturelle Bildungslandschaften zu entwickeln sind, damit das Recht auf musikkulturelle Teilhabe auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Wie kann das Recht auf musikalische Bildung und auf musikalische Eigenproduktivität auch für benachteiligte Perso­nengruppen gefördert werden? Wie funk­tioniert das Singen in einem von Vielfalt ge­prägten inklusiven Chor, was ist didaktisch zu beachten und wie gelingt das soziale Miteinander? Wie können Menschen durch musikalische Praxis im Sinne des Empowerment-Ansatzes sich nicht nur musikalisch bilden und (re-)präsentieren, sondern auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung oder bei der Bewältigung sozialer Problemlagen unterstützt werden?
Wie sieht eine geschlechter- und diversitätssensible Musikarbeit in Kindertagesstätten aus und wie gelingen Musikprojekte in der Migrationssozialarbeit, die reflektiert mit potenziellen Stereotypisierungen oder Alltagsrassismen umgehen? Wie sind Musikprojekte zu konzipieren, wenn sie den Anforderungen von Transkulturalität und Internationalität entsprechen wollen? Diese Themenfelder, Fragen und Herausforderungen können in ihrer Komplexität unserer Ansicht nach nur in interdisziplinären Praxisentwicklungs- und Forschungsprojekten kooperativ bearbeitet werden.
Forschungsprojekte zur Sozialen Arbeit mit Musik beschäftigen sich beispielsweise mit der eigenen professionellen Profilbildung, es geht um Qualitätsentwicklung und Evaluation von Praxisfeldern und um die Weiterentwicklung der Praxis. Die Vermittlungspraxis in populären Musikszenen sowie die Biografieforschung zu informellen und nonformalen musikalischen Bildungsprozessen oder auch die musikalische Praxis in Kindertagesstätten sowie eine ras­sismuskritische und diversitätssensible Ana­lyse Kultureller Bildung sind Forschungsprojekte, die seitens der Autorinnen zurzeit betrieben werden – und dies auch in interdisziplinären Teams mit MusikpädagogInnen. Hier liegen Potenziale professioneller Kooperationen, um gemeinsam die aktuellen Herausforderungen musikalischer Praxis bearbeiten zu können.

1 deutsche Übersetzung, www.dbsh.de/profession/ definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung. html (Stand: 4.11.2018).
2 vgl. Silvia Staub-Bernasconi: „Das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit – Wege aus der Bescheidenheit. Soziale Arbeit als Human Rights Profession“, in: Wolf Rainer Wendt (Hg.): Soziale Arbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses.
Beruf und Identität, Freiburg 1995, S. 5-104.
3 vgl. Rainer Treptow: „Kulturpädagogik und Kul­turarbeit. Grundlagen, Praxisfelder, Ausbildung“, in: Sebastian Müller-Rolli (Hg.): Kulturpädagogik und Kulturarbeit. Grundlagen, Praxisfelder, Aus­bildung, Weinheim 1988, S. 81-104.
4 vgl. hierzu ausführlicher Marion Gerards: „Kul­turelle Teilhabe und Teilgabe als Herausforderungen und Potentiale Sozialer Kulturarbeit in der Migrationsgesellschaft“, in: Martin Spetsmann-Kunkel (Hg.): Kultur interdisziplinär – eine Kategorie in der Diskussion, Leverkusen 2019.
5 Thomas Grosse/Hans Hermann Wickel: „Musik in sozialen Arbeitsfeldern“, in: Michael Dartsch u. a. (Hg.): Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse, Münster 2018, S. 142-151, hier: S. 143.
6 Young@Heart ist ein US-amerikanischer Laienchor mit SängerInnen im Alter zwischen 70 und 100 Jahren. www.youngatheartchorus.com
7 In der Hamburger Band Station 17 spielen Be­woh­nerInnen der Wohngruppe 17 der Evangelischen Stiftung Alsterdorf gemeinsam mit professionellen MusikerInnen. www.17rec.de/artists.htm
8 vgl. Elke Josties/Stefanie Menrath (Hg.): Kulturelle Jugendbildung in Offenen Settings. Praxis, Theorie und Weiterbildung, München 2018.