© Mädchenzentrum/MMA NRW_Ole-Kristian Heyer

Rybarski, Julian / Claudia Gertz / Barbara Christ / Kristin Langer

Raum der Möglichkeiten

MädchenMusikAkademie NRW – ein Ansatz zur popmusikalischen Teilhabe

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 22

Die MädchenMusikAkademie Nordrhein-Westfalen (MMA NRW) ermöglicht Mädchen und jungen Frauen über niedrigschwellige Safe*r-Space-Angebote, ­populäre Musik in allen Facetten zu lernen, selbst zu gestalten und auf die Bühne zu bringen. Von Workshops an Schulen über Gesangs- und Instrumentalunterricht bis hin zu diversen maßgeschneiderten Inhalten, Konzerten und weiteren musika­lischen Events bietet die MMA NRW eine Vielfalt an Möglichkeiten, Popmusik als Kulturtechnik für Mädchen und junge Frauen erfahrbar zu machen.

Die MMA NRW ist Teil des Mädchenzent­rums Gelsenkirchen e. V.,1 das seit 1988 Beratung in Krisen- und Umbruchsituationen sowie weitere Inhalte für Mädchen und junge Frauen zwischen zehn und 27 Jahren bietet. Die Altersgrenze ergibt sich aus den landes- und bundesweit geltenden Förderrichtlinien für Jugendhilfe. Das Angebot umfasst:
– die Mädchenberatungsstelle für Mädchen und junge Frauen in Krisensituationen mit entsprechendem Fachpersonal,
– das Mobile Mädchenzentrum mit gezielten Angeboten für Mädchen in deren Sozialräumen, hauptsächlich Schulen. Zielgruppen sind Mädchen und junge Frauen, für die die Angebote der Jugendarbeit, z. B. wegen Mobilitätseinschränkungen, Verboten oder aus kulturellen Gründen, nicht erreichbar sind,
– die MädchenMusikAkademie NRW, um die es in diesem Beitrag geht, sowie
– den MädchenRaum, in dem Angebote für Mädchen in besonders schwierigen Lebenslagen durchgeführt werden, die sehr niedrigschwellig konzeptioniert sind. Hierbei handelt es sich um Prävention aller Arten von Gewalt, auch sexualisierter Gewalt. Es werden ebenfalls Präventionsangebote für Fachkräfte durchgeführt.
Das Mädchenzentrum arbeitet ressourcenorientiert und setzt auf die Fähigkeiten und Stärken, die alle Mädchen mitbringen. Ein vorrangiges Ziel der Arbeit ist die fachliche und politische Einflussnahme zur Verbesserung der Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen und der Abbau strukturell verankerter Benachteiligung. Dazu hat sich das Mädchenzentrum stark vernetzt, unter anderem in der LAG Autonome Mädchenhäuser/ feministische Mädchenarbeit NRW e. V.
Die MMA erhebt keine Beiträge, da sie musikalische Angebote für diejenigen bereithält, die sonst nicht oder nur erschwert Zugang finden. Dabei ist eine mögliche finanzielle Hürde nur ein Grund, keinen Unterricht oder sonstige musikalische Erfahrung erhalten zu können – Ausgrenzung aufgrund von Geschlecht, Gender, Rassismus und ähnlichen Faktoren spielt unabhängig davon eine Rolle. Das Projekt finanziert sich aus je neu beantragten externen Fördermitteln, um eine ausreichende Mischfinanzierung zu gewährleisten. Seit 2016 erhält das Projekt eine jährliche Strukturförderung des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, die zwar nicht alle Kosten abdeckt, aber mehr Planungssicherheit schafft.

Team

Das Team der MMA besteht ausschließlich aus Honorarkräften, wobei die Leitung in Zusammenarbeit mit den hauptamtlichen Kräften des Mädchenzentrums Gelsenkirchen
e. V. und dem Vorstand des Vereins die Ausrichtung, Planung und Übersicht über die Arbeit gestaltet. Julian Rybarski, künstlerischer Leiter der MMA NRW, ist selbst Popmusiker, und aus seiner Erfahrung von Szenen und sehr schmalen Korridoren für Identitäten und Gestaltungsteilhabe in diesem Bereich ergab sich der Impuls zur Gründung der MMA NRW. Die Honorarkräfte des sechsköpfigen Kernteams sind für den Unterricht, die Organisation und Umsetzung der Workshops sowie begleitende Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Das Team besteht aus MusikerInnen, zum Teil mit geisteswissenschaftlichem Studium, sowie einer Inklusionspädagogin; weitere DozentInnen werden nach Bedarf gebucht.

Notwendigkeit

Popmusik, auf die sich die Angebote der MMA beziehen, verspricht Teilhabe am kulturellen Prozess, am musischen, demokratischen Diskurs innerhalb einer Gesellschaft. Popmusik verspricht, dass Nöte, Wünsche, Ängste, Utopien, Diversität, Mainstream und Abseitiges in ihr eine Heimat und ein Sprachrohr finden. Zugleich ist Popmusik ubiquitär – keine heute lebende Generation westlicher Gesellschaften ist in ihrer Berührung mit Kultur nicht mit Popmusik aufgewachsen. Sie begegnet uns im Radio, im Kino, Fernsehen, Internet, sie ist zum Referenzpunkt geworden, und selbst, wenn wir sie nicht hören, funktionieren ihre Codes als Signifikat für Haltungen, Szenen, Vergangenes, Heutiges oder mindestens für den Sound, der dann im Kopf entsteht, wenn man ihnen begegnet.
Dennoch bilden Teilhabe und Repräsentanz der Popmusik immer noch nicht die Vielfalt der Gesellschaft ab, für die sie wichtig ist und für die sie vorgeblich ein Medium der Repräsentanz darstellt. Das gilt insbesondere für die Teilhabe von Mädchen und Frauen. Die MMA NRW hat sich aus dieser Erfahrung heraus und aus der Wahrnehmung einer Notwendigkeit zur Änderung des Status Quo gebildet. Unter Mädchen und jungen Frauen versteht die MMA hierbei Personen, die sich selbst als weiblich definieren und/oder als weiblich von der Gesellschaft angesehen werden. Dabei werden vielfältige Identitäten berücksichtigt, sei es in Kategorien wie Geschlecht (z. B. Trans*, Inter*) oder auch Kultur, sozioökonomischer Status oder körperliche Ausgangslage.

Geschichte

Der Beginn der MMA NRW geht auf die Herrenfußballweltmeisterschaft 2006 zurück: Als Austragungsort stellte Gelsenkirchen ein spielbegleitendes Kultur- und Unterhaltungsprogramm zusammen, das sich fast exklusiv an Männer und Jungen richtete und beinahe ausschließlich von diesen bestritten wurde. Dem Mädchenzentrum gelang es jedoch, für einen Tag eine der zentralen Bühnen für ein eigenes Programm zu erhalten. Für diese Gelegenheit fand sich eine Band mit einem Vokalensemble zusammen, und auf dieses Konzert folgten dann noch im gleichen Jahr weitere Auftritte, ebenso die Aufnahme eigener Songs – und immer mehr Mädchen wollten auch Instrumente lernen. In den nächsten Jahren hat sich die Arbeit sehr stark auf Bandcoaching, Instrumental- und Gesangsunterricht der zehn bis 16 Jahre alten Mädchen sowie auf Auftrittsbegleitung der verschiedenen Ensembles konzentriert.

1 Die MädchenMusikAkademie NRW – so die offizielle Bezeichnung des Projekts – ist in Gelsenkirchen beheimatet, agiert aber in ganz Nordrhein-Westfalen.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2022.