Bradler, Katharina

Raus aus dem Tabu

Gespräch mit Freia Hoffmann über sexuelle Übergriffe im ­Instrumental- und Gesangsunterricht

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 48

Spätestens seit #MeToo ist klar: Sexualisierte Gewalt findet vielerorts und branchen­übergreifend statt. Das betrifft auch die Musikszene. Gerade künstlerischer Einzel­-unterricht scheint mit seinem emotionalen Gegenstand, dem Changieren zwischen Nähe und Distanz eindeutige Grenzen bisweilen zu vernebeln. Vor 16 Jahren erschien der Sammelband „Panische Gefühle“, in dem Freia Hoffmann als eine der ersten sexuelle Übergriffe im Instrumentalunterricht thematisierte. Was ist seitdem passiert? Welche Möglichkeiten gibt es, auf systemischer und individueller Ebene zu agieren?

2006 ist Ihr Buch „Panische Gefühle“ erschienen. Es war eine der ersten Publikationen, in denen sexuelle Übergriffe im Instrumentalunterricht thematisiert wurden: ein Handbuch mit Fallbeispielen, Kommentaren, juris­tischen Informationen und Hilfs­angeboten. Was hat Sie zu dieser Publikation veranlasst?
Der Anlass war ein Gespräch mit einer sehr engagierten Kollegin, Frauenbeauftragte an einer deutschen Musikhochschule. Sie meinte, ich solle dringend eine Dissertation, eine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema anregen. Sie berichtete von zahlreichen Fällen in ihrer Beratungspraxis und fand, es sei wichtig, darauf einmal die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Musikpädagogik zu lenken. Ich fand die Idee nicht so gut, weil ich es nicht verantworten wollte, eine junge Nachwuchswissenschaftlerin mit diesem heik­len Thema in eine Berufskarriere starten zu lassen.
Dass ich dann aber ein Handbuch zum Thema auf den Weg gebracht habe, hatte einen tieferen Grund: In meinem Studium an der Musikhochschule Freiburg war ich einigen sehr heftigen sexuellen Attacken ausgesetzt, die von verbalen Anzüglichkeiten im Hauptfachunterricht bis zu körperlichen Übergriffen eines Klavierdozenten reichten und in einem Fall sogar fast mit einer Vergewaltigung endeten. Abgesehen von Ekelgefühlen und Wut hat mich das aber nicht wirklich verletzt. Ich war – als Nachkriegskind – in meiner Erziehung nicht besonders sanft angefasst worden und dachte, solche Vorkommnisse gehörten eben dazu und ich müsste mich eben wehren. Eines Tages gastierte zum Beispiel ein bekannter Komponist in der hochschuleigenen Konzertreihe im Kaufhaussaal und ich war Teil des Ensembles, das er dirigierte. Nachdem er mich zur Seite genommen und in sein Hotel eingeladen hatte, rächten wir uns im Konzert, indem wir im eingebauten Improvisationsteil – in dem wir alle Freiheiten haben sollten – eine alte Blockflöte zersägten. Das hat ihn dann allerdings ziemlich blass werden lassen. In der Zwischenzeit hörte ich von ehemaligen Kommilitoninnen, dass Übergriffe, zum Teil auch von recht prominenten Professoren, an der Tagesordnung waren. Es war sozusagen Teil unserer Hochschulkultur. Und 35 Jahre später war mir klar, dass ich da noch eine Rechnung offen hatte.

Dass es sich hierbei nicht nur um eine persönliche Rechnung, sondern um ein bis heute hochaktuelles, viel zu lange unter den Tisch gekehrtes Thema handelt, zeigen die vielfältigen Beiträge des Sammelbandes. Wie waren die Reaktionen auf das Buch?
Erst einmal war ich sehr dankbar, dass der Schott-Verlag das Buch ohne weiteres Nachfragen in seine damals neue Buchreihe „üben & musizieren – texte zur instrumentalpädagogik“ aufgenommen hat. Ein anderer großer Musikverlag lehnte ab, weil er damit nicht die vorgesehenen Absatzzahlen erreichen würde: „So wünschenswert es sicherlich auch ist, diese Fragen offen zur Sprache zu bringen, so gering schätzen wir jedoch die Neigung ein, sich hierzu ein Buch anzuschaffen. Das hängt auch mit der Vermutung zusammen, dass tendenziell und ganz grob formuliert der an sich vorgesehene Käuferkreis identisch ist mit dem Täterkreis.“

Kaum zu glauben und erfreulich, dass Schott sich dieses Themas angenommen hat…
Die Resonanz in der Fachwelt allerdings war großes Schweigen. Kein Kollege, keine Kollegin hat mich darauf angesprochen, es gab nur wenige Rezensionen und schon gar keine offiziellen Überlegungen, wie man das Thema in der Ausbildung oder im Hochschulbetrieb aufgreifen könnte. Stattdessen bekam ich monate- und jahrelang Zuschriften von Betroffenen, aus dem Privatmusikunterricht und der Hochschulausbildung. Ich bekam ausführliche Fallbeispiele und hätte sofort einen zweiten Band damit füllen können. Es gab aber auch viele Telefonate, der Gesprächsbedarf war sehr groß – das ist bis heute die Realität der Frauenbeauftragten.

Und zeigt, dass es hier nicht um Einzelfälle geht. Auch ich kann Ihnen aus meiner eigenen Biografie zahlreiche Beispiele nennen. Das geht los mit Händen, die manchmal gezielt und manchmal wie zufällig auf meinem Gesäß landeten, da sind anzügliche Bemerkungen, aber auch das Bild einer männer­inspirierenden Muse, in das ich mich immer wieder hineingerahmt sah.
Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Die Übergriffe sind, wie ich sagte, Teil einer Kultur, und man kann – ebenso wie es für die katholische Kirche und für den Sportbetrieb formuliert wird – in der Musikausbildung von systemischen Merkmalen sprechen: Es ist die Musik selbst, die erotisch anregt, es sind die Rollenmodelle in Opern und Liedtexten, es ist der Nimbus der oft weltberühmten Professoren, es ist der Einzelunterricht, es ist oft eine sehr enge Bindung und Abhängigkeit.

Und das lässt bei Betroffenen nicht selten das Gefühl entstehen, dass dies irgendwie dazugehöre. Das Verhältnis von Dozierenden und SchülerInnen ist und bleibt eben asymmetrisch, das heißt von einem Machtgefälle geprägt. Wie können Studierende, Lehrende und Institutionen mit dieser Ambivalenz produktiv umgehen?
Zuerst einmal muss man sagen (oder man muss es hoffen), dass heute die meisten Lehrenden nicht übergriffig sind. Sie werden dafür bezahlt, dass sie den Studierenden etwas beibringen, sie in ihrer technischen und musikalischen Entwicklung fördern, und nicht dafür, dass sie ihre emotionalen und erotischen Bedürfnisse befriedigen. Wer das nicht unterscheiden kann, sollte an einer Hochschule bzw. Musikschule nicht unterrichten. Man kann gerade bei jungen Musikerinnen – das haben mir viele Fallbeispiele gezeigt – so viel anrichten, so viel zerstören. Meist ist es an einer Institution ja kein Geheimnis, bei welchem Lehrer man mit Übergriffen rechnen muss. Da sollten sich Studierende untereinander verständigen und sich solidarisch verhalten.
Leider ist die Realität in den Ausbildungsklassen eher von Konkurrenz und Abschottung geprägt. Für die Musikausbildungsstätten sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, das Personal zu schulen, das Thema zu enttabuisieren und zu signalisieren: Wir kümmern uns, wir passen auf, wir fühlen uns als Institution insgesamt verantwortlich für eine gute Lernumgebung. Antje Kirschning, die Frauenbeauftrage an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, hat einmal geschrieben: „Wegsehen und Schweigen ist eine Form von unterlassener Hilfeleistung.“

Als Professorin in leitender Funktion mache ich immer wieder die Erfahrung, dass es he­rausfordernd ist, dieses gemeinsame Verantwortungsgefühl zu etablieren in einem Gefüge, das sich über Generationen aufgebaut hat und weiter reproduziert wird. Es erfordert Umdenken und ein hohes Maß an Selbstkritik – das der Vorstellung der Unantastbarkeit von Kunst bzw. Künstlerpersönlichkeiten oft entgegensteht. Wie kommen wir von der Ebene der Betroffenen auf eine systemische Ebene? Was sind die nächsten Schritte?
Ein sehr gute Idee, um das Problem sichtbar zu machen, ist z. B. eine Plakataktion zum Thema, wie sie an der Musikhochschule in Köln zu sehen ist. Man kann Übergriffe oder – weiter gefasst – den respektvollen Umgang, Nähe und Distanz im Einzelunterricht etwa in einer Gesamtkonferenz oder bei einem „Pädagogischen Tag“ thematisieren. Erstsemester können bei der Begrüßung informiert werden, dass die Hochschulleitung oder das Gleichstellungsbüro Hilfe anbietet, in Musikschulen kann man Eltern bei der Anmeldung ihrer Kinder über eine entsprechende Selbstverpflichtung informieren. Wenn Neu- oder Umbauten anstehen, sollte man gläserne ­Türen oder Innenfenster einplanen und Parkmöglichkeiten ausreichend beleuchten.
Ich denke, die Verpflichtung auf einen respektvollen und sensiblen Umgang könnte auch in den Arbeitsverträgen der Lehrenden formuliert werden. Besonders produktiv ist es allerdings, wenn eine Richtlinie oder ein Code of Contact nicht aus dem Internet geholt und von oben verordnet wird, sondern wenn sich die Lehrenden selbst zusammensetzen und darüber sprechen, welche Kons­tellationen, Machtverhältnisse, Abhängigkeiten, Gefahren, wünschenswerten Haltungen und Selbstverpflichtungen in ihrer spezifischen Institution geregelt werden sollten.
Nicht zuletzt gehört das Thema auch in die Ausbildung. Gibt es einen Musiker oder eine Musikerin, die nicht – neben anderen Arbeitsfeldern – später auch Unterricht erteilt? Bei Lehrproben oder bei der Erörterung didaktisch-methodischer Fragen gehört es einfach dazu, dass man über Berührungen und Körperkontakt spricht. Atmung, Haltung, Arm- und Fingerbewegungen sind im Instrumental- und Gesangsunterricht zentrale Themen, und da muss verantwortliche Lehre stattfinden: eine Lehre, die auch Beziehungen, notwendige Distanz und wünschenswerte Nähe problematisiert.

Wie können Betroffene am besten vorgehen? Wenn sie sich sorgen, Angst vor rechtlichen Schritten haben?
Die meisten Hochschulen haben Frauenbeauftragte oder Gleichstellungsbüros. An Musikschulen gibt es in der Regel VertrauenslehrerInnen, an die man sich wenden kann. Sinnvoll sind dann meines Erachtens Gespräche der Hochschul- oder Schulleitung mit den Beschuldigten – oft reicht das schon aus, um eine Klärung und Verhaltensänderung herbeizuführen. Auf keinen Fall eine Gegenüberstellung, vor allem bei Kindern nicht! Andere Schritte möchte ich hier gar nicht aufzählen, weil die Betroffenen sich fast immer vor weitergehenden Maßnahmen scheuen. Wichtig scheint mir, dass die Sache diskret verhandelt wird, im beiderseitigen Interesse. Ein Problem liegt aber darin, dass die Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte oft auch Kollegin ist, dass sie am nächsten Tag mit dem Beschuldigten in einem Gremium sitzt oder Prüfungen abnehmen muss. Günstiger ist da auf jeden Fall eine Gleichstellungs­beauftragte, die nicht gleichzeitig Lehrerin ist, und am besten sind natürlich externe Beratungsstellen, die meist auch psychologisch und juristisch für die Problematik besser ausgebildet sind.

Sie haben in den vergangenen Jahren zusammen mit der Psychologin Monika Holzbecher in Musikschulen und Musikhochschulen viele Fortbildungen veranstaltet. Hat sich Ihrem Eindruck nach die Situation verbessert?
Das ist schwer zu sagen. Durch #MeToo ist das Thema zumindest in den Medien präsent, und mancher Täter wird durch Gerichtsurteile und öffentliche Beschuldigungen vielleicht vorsichtiger werden. Aber die fast täglichen neuen Enthüllungen aus dem Musik­leben, aus dem Sport, aus der Film- und Theaterszene, aus der katholischen und evange­lischen Kirche zeigen ja, dass Übergriffe in fast allen Bereichen weiterhin vorkommen und dass das Unrechtsbewusstsein von Tätern, Vorgesetzten und Mitwissenden erschreckend gering ist. Und wenn ich bei Fortbildungen höre, dass Leitungen von Musikhochschulen das Thema am liebsten unter dem Teppich halten, aus Angst vor einem Verlust ihres Renommees – da kann ich mir nicht vorstellen, dass wir das Problem in ein paar Jahren los sind.

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