Bossen, Anja

Reden hilft

Das Verfahren der Kollegialen Beratung

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 08

Die Anforderungen an Musikschullehrkräfte sind in den vergangenen zehn Jahren immens gestiegen und steigen weiter. Daraus resultieren neue Anforderungen und Probleme für die Lehrkräfte. Hier setzen Fortbildungen an. Allerdings ist nicht vorgesehen, dass die Lehrkräfte nach Abschluss der Fortbildung auch im Unterrichtsalltag einen Ansprechpartner haben, mit dem sie über problematische Situationen sprechen und sich beraten lassen können. Musikschullehrkräfte „sollen“:
– Sie sollen Einzel-, Gruppen- und Großgruppenunterricht erteilen, Menschen aller Alters- und Bevölkerungsgruppen unterrichten – binnendifferenziert und inklusiv natürlich, das Ganze in verschiedenen Unterrichtsmodellen.
– Sie sollen mit Kitas, Schulen, Seniorenheimen, Kirchen und soziokulturellen Zent­ren kooperieren und Community Musicians werden.
– Sie sollen sich weiterbilden und sozialpädagogische, politische und therapeutische Aufträge erfüllen.
– Sie sollen gesellschaftliche Verwerfungen reparieren und Transfereffekte erzeugen.
Doch wie sollen sie all diese Ansprüche im Berufsalltag bewältigen, jenseits von Fortbildungen, die meist nicht die Gelegenheit bieten, die spezifische Situation der einzelnen Lehrkraft in den Blick zu nehmen? So steigt der Frust vieler Musikschullehrkräfte, die durch die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit zu „Einzelkämpfern“ gemacht werden. Die Unterrichtsqualität leidet. Vor allem aber leiden die Lehrkräfte.
Was im Alltag der Lehrkräfte an allgemein bildenden Schulen möglich ist, nämlich mit Kollegen, die die Probleme nachvollziehen können und teils sogar dieselben Schülerinnen und Schüler unterrichten, problematische Situationen auf Konferenzen oder im Lehrerzimmer zu besprechen, geht für viele Musikschullehrkräfte nicht; sei es, weil ihre Musikschule gar kein Lehrerzimmer hat, sie sich dort wegen unterschiedlicher Unterrichtszeiten nicht sehen können oder in unterschiedlichen Gebäude unterrichten. In die Kollegien von allgemein bildenden Schulen sind sie ebenfalls nicht eingebunden, sodass die Möglichkeiten des Austauschs äußerst gering sind.

Hilfe zur Selbsthilfe

Professionelle Beratungsangebote wie z. B. Supervision durch den Arbeitgeber sind bisher die Ausnahme. Was den Musikschullehrkräften also bleibt, ist, auf eigene Kosten Seminare zu belegen, in denen ihre individuellen Probleme im Kreis der Seminarteilnehmer thematisiert werden können. Doch zum Verfahren der Supervision, bei der jemand „von außen“ engagiert wird, und statt selbst zu finanzierender Seminare gibt es eine Alternative als „Hilfe zur Selbsthilfe“: das Verfahren der Kollegialen Beratung.
In allgemein bildenden Schulen wird dieses Verfahren schon länger angewendet. Hier kann im Kollegenkreis in geschützter Atmosphäre, ohne jemanden „von außen“ und ohne Kosten über alle Probleme im Zusammenhang mit beruflichen Anforderungen gesprochen werden. Ziele der Kollegialen Beratung sind eine Professionalisierung des Lehrerhandelns, die Bewältigung von Belastungen des Berufsalltags und die Persönlichkeitsentwicklung, z. B. das Finden eigener Stärken und von Rollen, das Bearbeiten von überhöhten Ansprüchen und die Entwicklung einer gesunden Distanz zum Beruf. Es geht jedoch ausdrücklich nicht darum, sich den bestehenden Strukturen anzupassen, sondern um ein selbstorganisiertes Beratungs-, Stütz- und Reflexionssystem.

Wie es funktioniert

Die Kollegiale Beratung sollte idealerweise in einer Gruppenstärke von vier bis acht TeilnehmerInnen stattfinden. Die Teilnahme ist freiwillig. Zunächst wird ein Moderator bestimmt, der auf die Einhaltung der genau festgelegten Regeln achtet und gegebenenfalls ein Protokoll führt. Weiter muss bestimmt werden, wer einen „Fall“ (eine Situation/ein Problem) eingibt und wer berät. Derjenige, der als „Falleingeber“ bestimmt wurde, verbalisiert seine spezifische Situation und stellt sie so nachvollziehbar wie möglich dar, während die Beratenden zuhören bzw. später nachfragen, wenn ihnen etwas unklar geblieben ist. Der Ratsuchende nimmt schließlich einen Perspektivwechsel von „innen“ nach „außen“ ein und erhält am Ende Ideen von seinen KollegInnen darüber, wie sein Prob­lem möglicherweise zu lösen wäre.
Das Beraterteam hat die Aufgaben zuzuhören, Ursachen zu analysieren, nachzufragen und Lösungsvorschläge zu machen (in genau dieser Reihenfolge), ohne den Ratsuchenden zu kritisieren oder ihn als Person in Frage zu stellen. Der gesamte Ablauf der Beratung folgt in einem genau festgelegten, verbindlichen Zeitrahmen für jeden einzelnen Schritt; insgesamt dauert ein Verfahren zu einem „Fall“ ca. 65 Mi­nuten.
Es kann sinnvoll sein, nach dem ersten Ein­holen von Ratschlägen aus dem Kollegenkreis ein zweites Treffen in nicht zu geringem zeitlichen Abstand (mehrere Wochen) durchzuführen, damit man Zeit hat, das, was man aus der Beratung angenommen hat, auszuprobieren und umzusetzen. Das können unter Umständen auch mehrere verschiedene Strategien sein, deren Erprobung in der Praxis Zeit benötigt. Das Ergebnis kann dann in einem Folge-Treffen besprochen werden, vor allem auch, wenn die gewählte Strategie nicht zum Erfolg geführt hat, das Problem also nicht gelöst ist. Dann kann man über Alternativen zur ersten Strategie sprechen, denn ein „Rezept“ für die Lösung eines Problems gibt es nicht. Ein „Fall“ kann also nochmals aufgenommen werden.
Alle „Fälle“ werden von den Lehrkräften selbst eingebracht, sodass keine Vorbereitung nötig ist. Wichtige Prinzipien sind die Freiwilligkeit der Teilnahme, eine Gruppe, in der Vertrauen herrscht, und die unbedingte Einhaltung aller Regeln und vorgeschriebenen Schritte. Persönliche Angriffe und unkontrollierte Emotionen machen die Kollegiale Beratung zunichte.

Was kann die Kollegiale ­Beratung leisten, was nicht?

Durch die strengen Regeln können die KollegInnen innerhalb eines geschützten Raums offen über ihre Belastungen sprechen. Kollegiale Beratung kann zur Selbstreflexion des eigenen Lehrerverhaltens, der eigenen Verantwortlichkeit und zu einer Klärung der Lehrerrolle anregen oder auch tiefer liegende Probleme (z. B. zwischen Kollegen) zum Vorschein bringen. Sie kann zutage fördern, dass nicht alle Probleme von den Lehrkräften verursacht und damit auch nicht von ihnen zu lösen sind, weil sie außerhalb ihres Einflussbereichs liegen. In diesem Fall hilft noch so viel Reden nicht. Die Beratung kann dann aber dazu beitragen, sich zu einer nicht zu ändernden Situation so oder so zu verhalten.
Aber auch, wenn durch die Beratung keine endgültig zufriedenstellende Lösung erreicht werden kann, kann das Gespräch dennoch für die Ratsuchenden entlastend sein. In der Regel fühlen sich viele Lehrkräfte schon deutlich besser, wenn sie merken, dass sie mit ihren Nöten und Prob­lemen keineswegs allein dastehen, sondern andere Lehrkräfte ähnliche Prob­leme haben.
Kollegiale Beratung ist also mehr als ein Austausch, aber weniger als eine Therapie. Durch die gezielte und zeitlich genau festgelegte Arbeit an konkreten beruflichen Situationen und durch die Lösungsorientierung wird ein Abdriften in allzu viele Wiederholungen von bereits Gesagtem und von Meinungsäußerungen im Sinne von „früher war alles besser“ verhindert.
Was die Kollegiale Beratung nicht leisten kann, ist, therapeutisch wirksam zu werden. Hier liegen ganz klar ihre Grenzen. Natürlich kommen innerhalb des geschützten Raumes manchmal auch sehr persönliche Probleme auf den Tisch. Aber die Kollegen sind keine Therapeuten, sodass sie nicht überfordert werden dürfen. Stellt sich während der Kollegialen Beratung heraus, dass jemand so schwerwiegende Probleme hat, dass ihm der Rat der Gruppe auf keinen Fall weiterhelfen kann, ist sie nicht das richtige Verfahren für den Ratsuchenden.
So positiv die Kollegiale Beratung für die Ratsuchenden auch sein kann, besteht allerdings ein Wermutstropfen darin, dass sie zumindest von Honorarkräften in ihrer Freizeit zu absolvieren ist. Im Interesse der Musikschulleitungen wäre es allerdings, dieses Verfahren an ihrer Schule einzuführen und zu vergüten, mindestens für die Lehrkräfte, die in Kooperationen mit Kitas oder Schulen arbeiten. Denn diese sind prinzipiell denselben Belastungen ausgesetzt wie Erzieherinnen oder Lehrkräfte an allgemein bildenden Schulen.
Die Lehrkräfte sind das Kapital der Musikschulleiter, und wer stets steigende Ansprüche an die Lehrer stellt, muss auch dafür sorgen, dass sie damit zurechtkommen. Was sich in der freien Wirtschaft längst herumgesprochen hat – dass Mitarbeiter, die sich im Betrieb wohlfühlen, engagiertere Arbeit leisten und sowohl psychisch als auch physisch gesünder sind als Mitarbeiter, denen es nicht gut geht und die sich nicht gut behandelt fühlen –, ist an so manche Musikschule leider noch nicht vorgedrungen. Wem seine MitarbeiterInnen jedoch wichtig sind, der wird auch etwas für sie tun.