Herbst, Sebastian

Regionalspezifisches Potenzial statt Defizit

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 41

Fragen zur Quantität und Qualität musikalischer Bildungsangebote in ländlichen Räumen erfahren verstärkt Interesse. Aktuell wird dies beispielsweise deutlich durch die BMBF-Fördermaßnahme „Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen“, in deren Rahmen 21 Forschungsprojekte finanziert werden. Von diesen Projekten setzen sich drei explizit mit musikpädagogischen Fragestellungen auseinander, wobei andere Teilprojekte ebenfalls Angebote musikalischer Bildung in ihren Untersuchungen berücksichtigen. Erste Überlegungen und Teilergebnisse aus den Projekten wurden in diesem Jahr in einem lesenswerten Sammelband publiziert.
Bei der Lektüre wird unter anderem deutlich, wie wenig hilfreich eine defizitorientierte Beschreibung von länd­lichen Räumen in Bezug auf die Angebote musikalischer Bildung ist. Gemeint ist eine Herangehensweise aus der Perspektive urbaner Strukturen, die zunächst beschreibt, was ländlichen Räumen im Vergleich zu Städten fehlt. Wesentliche Aspekte sind dabei die Entfernung zu Bildungsangeboten bei einem zu wenig ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr sowie die Feststellung einer geringeren Einwohnerzahl und einer nicht zuletzt durch die sogenannte Landflucht beförderten anderen Altersstruktur, die ein geringeres oder anders ausgerichtetes Angebot zur Folge haben kann.
Eine in dieser Hinsicht defizitorientierte Haltung verkennt jedoch das häufig vielfältige Musikleben in ländlichen Räumen und führt lediglich zur Benennung von bewährten urbanen Strukturen, die nachvollziehbarerweise im ländlichen Raum nicht identisch funktionieren. Die Folge ist Kapitulation bzw. Hinnahme oder die Formulierung unrealistischer Wünsche – letztlich aber wohl vor allem Ohnmacht und Frustration.
Wenn beispielsweise die kürzlich vom Deutschen Musikrat herausgegebene Studie zur Infrastruktur und Nutzung öffentlicher Musikschulen zu dem Ergebnis kommt, dass „in Gebieten mit geringeren durchschnittlichen Abständen zwischen Unterrichtsstätten die Musikschüleranteile an der Bevölkerung [statistisch steigen]“, lassen sich daraus mit einer defizitorientierten Haltung folgende mögliche Konsequenzen mit Blick auf Gebiete formulieren, die tendenziell höhere Abstände zwischen Unterrichtsstätten aufweisen: Einerseits ließe sich dieser Befund als nicht veränderbare Situation hinnehmen. Andererseits könnte man etwas unrealistisch fordern, weitere Außenstellen einer Musikschule mit entsprechendem Fachpersonal einzurichten und/oder den öffentlichen Personennahverkehr auszubauen. Dass dies allein aus wirtschaftlichen Motiven nicht tragfähig ist, erschließt sich.
Darüber hinaus macht man es sich mit dieser außerhalb der eigenen Handlungsmöglichkeiten liegenden Forderung auch sehr leicht und lässt die eigentliche Komplexität, die dem Befund zugrunde liegt, unbeachtet. So konnte im Forschungsprojekt „ElKuBi“ beispielsweise festgestellt werden, dass sich Eltern in ländlichen Regionen in unterschiedlichem Maße entfernungssensibel zeigen und weitere Aspekte als die Entfernung in ihre Überlegungen hinsichtlich einer möglichen Teilnahme ihrer Kinder an Bildungsangeboten einbeziehen.
Für eine konstruktive Auseinandersetzung mit der musikalischen Bildungslandschaft im ländlichen Raum schlage ich daher eine Haltung vor, die statt einer Defizitorientierung das regionalspezifische Potenzial in den Blick nimmt. Dazu ist zunächst das Erfassen der für musikalische Bildungsangebote relevanten regionalspezifischen Aspekte (z. B. musikkulturelle Traditionen, finanzielle Förderungsstrukturen) und der bestehenden formalen, non-formalen sowie informellen Bildungsangebote erforderlich. Darüber hinaus ist das Netzwerk der Akteurinnen und Akteure zu beschreiben, und zwar hinsichtlich der Anbieter (z. B. Musikschule, Musikverein, Privatmusiklehrende, Kirchen, Feuerwehr etc.), aber auch mit Blick auf die Spezifika (potenzieller) Zielgruppen (z. B. Motivationen, Ziele, Bildungsvoraussetzungen, sozioökonomischer Hintergrund). Eine solche regionalspezifische Analyse ist grundlegende Voraussetzung, um ebenso regionalspezifische Potenziale zur Weiterentwicklung und auch Verbesserung der musikalischen Bildungslandschaft zu erkennen und voranzubringen.
Ausgehend davon können und sollten regionale Austauschtreffen für Personen initiiert werden, die musikalische Bildungs­angebote bereithalten oder an deren Weiterentwicklung interessiert sind. Zwingend sollten auch Personen einbezogen werden, die musikalische Bildungsangebote nutzen (wollen). Ein Abbau von eventuellem Konkurrenzdenken von Anbietern, neue Kooperationen und Formate, zielgruppenorientierte sowie regionalspezifische und in die lokale Bildungslandschaft verankerte Angebote, innovative Finanzierungsmöglichkeiten und politische Forderungen könnten Ergebnis eines solch gemeinsamen regionalen Bestrebens sein.