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Bauer, Susanne

Regulierung der innerseelischen Verfassung

Tiefenpsychologische Aspekte des Improvisierens in der ­Musiktherapie

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2025 , Seite 22

Die Improvisation ist eines der Kernstücke der Musiktherapie. Sie gilt als das Pendant zur freien Assoziation der Psychoanalyse und wird als „via regia“ zur Erforschung des Unbewussten bezeichnet.1

Der spontane, unzensierte und unmittelbare Ausdruck auf Klangkörpern und Musikinstrumenten ermöglicht Menschen einen tiefen Einblick in ihr Seelenleben.2 Seit der Entstehung der ersten Studiengänge in Deutschland in den 1980er Jahren ist vor allem die „freie Improvisation“ die Methode der Wahl zur Selbsterfahrung angehender MusiktherapeutInnen. Im klinischen Kontext wird das freie oder an Themen angelehnte Improvisieren in der Behandlung psychosomatischer und psychiatrischer PatientInnen eingesetzt.3

Wirkung von Musik auf sich und andere

Vorspielen
MusiktherapeutInnen waren und sind bis heute mehrheitlich MusikerInnen, auch Musik- und InstrumentalpädagogInnen.4 Jahrelang haben sie sich mit Musik beschäftigt und dabei die Erfahrung gemacht, dass das Musizieren und das Hören von Musik zur Regulierung ihrer innerseelischen Verfassung eine wichtige Rolle spielt. Durch Musik können Gefühle des Glücks, der Trauer oder der Wut verstärkt, Situationen bewältigt und Erlebtes kurzfristig vergessen werden. In Musik kann man „aufgehen“ und mit ihr und durch sie können inneres Gleichgewicht und Seelenfrieden, im Sinne einer Selbstbehandlung, wiederhergestellt werden.5 Das gilt für NichtmusikerInnen genauso, wenn sie ihren Gefühlshaushalt vorübergehend dadurch regulieren, dass sie die für sie passende Musik anhören.

Durch Musik können Gefühle des Glücks, der Trauer oder der Wut verstärkt, Situationen bewältigt und Erlebtes kurz­fristig vergessen werden.

Anders sieht es aus, wenn Menschen andere mit ihrer Lieblingsmusik beglücken wollen. Sie erleben, dass der eigene Musikgeschmack nicht immer geteilt wird, dass Musikstücke, die auf sie entspannend wirken, bei anderen Menschen Stress auslösen oder auch, dass Musik, die ihnen gefällt, von anderen als unangenehm empfunden wird. Verallgemeinerungen scheinen fehl am Platz. Die Wirkung von Musik richtet sich nach den individuellen Bedürfnissen, den musik-biografischen Erfahrungen und dem aktuellen Gesundheitszustand der Person. Krankheit verändert das Musikerleben: Was vorher als angenehm empfunden wurde, erscheint nun als zu laut oder störend. Menschen mit Depression berichten immer wieder, dass sie keine Musik mehr ertragen können. Ein Zeichen der Besserung ist unter anderem die wiedergewonnene Freude an der Musik.

Mitspielen
Bereits vor 80 Jahren gelangten amerikanische Ärzte zu der Erkenntnis, dass kriegsversehrte und kriegstraumatisierte Veteranen schneller und besser genesen, wenn sie, statt Musik anzuhören, selber singen oder musizieren. MusikerInnen wurden damit beauftragt, die Kranken aus ihrer passiven Patientenrolle in eine aktive, selbstwirksame Rolle zu versetzen. Sie sollten in Chören singen oder, im Falle von Musikern, in Patientenorchestern spielen. Die moderne Musiktherapie fand hier ihren Ursprung: mitspielen statt zuhören.
In den folgenden zwanzig Jahren entwickelte sie dieses Konzept beständig weiter. Durch die Gründung musiktherapeutischer Gesellschaften und die Etablierung von Ausbildungen erweiterten sich die Anwendungsbereiche von der „Kriegsmedizin“ hin zur Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Psychiatrie und Psychotherapie. MusiktherapeutInnen spielten und improvisierten nun zusammen mit ihren PatientInnen auf Xylofon, Metallofon, Klavier, Gitarre oder Trommel. Das theoretische Fundament zu den therapeutischen Wirkungsmechanismen der Musiktherapie lieferten die Schulen der Psychologie, der Medizin, der Psychoanalyse und anlehnender Disziplinen.6

Gemeinsam ­Improvisieren

Heilpädagogischer Ansatz: „music child“
In Großbritannien entwickelten der Pianist und Komponist Paul Nordoff und der Sonderpädagoge Clive Robbins die Methode „Creative Music Therapy“ zur Behandlung autistischer und schwerstmehrfachbehinderter Kinder.7 Auch Nordoff kam nach einem besonderen Konzert für Kinder mit geistiger Behinderung vom ursprünglichen Gedanken des Vorspielens ab und setzte stattdessen auf das Selber-Tun, auf die kreativen gestaltenden Anteile des Selbst. Er ließ Kinder auf einfachen Schlag,- Klang- und Melodieinstrumenten spielen und begleitete sie dabei auf dem Klavier. Die Kinder sollten ihren eigenen Ausdruck finden, ihr „music child“ entdecken, wie er den persönlichen innersten musikalischen Kern des Menschen nannte: das eigene Tempo, den eigenen Klang und die zu ihm/ihr passenden Töne. Um ihnen genügend Raum, aber auch Sicherheit und Halt bei der Suche nach dem Eigenen zu geben, bettete Nordoff die Klänge seiner kleinen PatientInnen improvisatorisch in harmonische, rhythmische oder melodische Strukturen ein oder pausierte, sodass das Kind die Stille oder, im Falle, dass es weiterspielte, sich selbst als Urheber von Klängen wahrnehmen konnte.

Psychoanalytischer Ansatz: „inner child“
Mary Priestley, Geigerin und Musiktherapeutin erster Generation aus Großbritannien, gilt als Begründerin der Analytischen Musiktherapie. Priestley hatte sich einer langjährigen Psychoanalyse nach C. G. Jung unterzogen und war davon überzeugt, dass während des Spielens Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle frei würden, „frühe Szenen“ sich wiederholten und Beziehungstraumata dadurch bearbeitet werden könnten. Musik habe eine Brückenfunktion zwischen Innen und Außen, Unbewusstem und Bewusstem. Während des Improvisierens entfalte sich das verletzte „inner child“; die Musik der Musiktherapeutin sei Antwort und Resonanz zugleich auf die unbewussten Wünsche und Projektionen ihrer PatientInnen. Die psychoanalytisch geschulte Musiktherapeutin spielt haltgebend, tröstend oder auch konternd und antwortend.
Dafür nutzte Priestley in Einzelsitzungen ausschließlich das Klavier; ihren erwachsenen PatientInnen stellte sie, im Sinne der Objektstabilität, die immer gleiche Auswahl an Ins­trumenten zur Verfügung. Zur Methode gehörte das Aufnehmen und das gemeinsame Anhören der Musik. PatientInnen sollten den unbewussten verdrängten Anteilen auf die Spur kommen, die im „Großen Ganzen“ – in der gemeinsamen Musik von PatientIn und TherapeutIn – zum Ausdruck kamen.8

1 Weymann, Eckhard: „Improvisation“, in: Decker-Voigt, Hans-Helmut/Weymann, Eckhard (Hg.): Lexikon Musiktherapie, vollständig überarbeitete und erweiterte 3. Auflage, Göttingen 2020, S. 253.
2 vgl. Timmermann, Tonius: Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie. Bausteine für eine Lehre, Wiesbaden 2004; Eschen, Johannes Theodor (Hg.): Analytical Music Therapy, London 2002; Loos, Gertrud: Spiel-Räume. Musiktherapie mit einer Magersüchtigen und anderen frühgestörten Patienten, Stuttgart 1986.
3 Bauer, Susanne: „Einzelmusiktherapie“, in: Decker-Voigt/Weymann, Lexikon Musiktherapie, S. 128-134; Bauer, Susanne: „Gruppenmusiktherapie“, in: Decker-Voigt/Weymann, Lexikon Musiktherapie, S. 229-234.
4 UdK Berlin: Umfrage Masterstudiengang Musiktherapie, unveröffentlichtes Dokument, 2022.
5 siehe Tüpker, Rosemarie: „Selbstpsychologie und Musiktherapie“, in: Oberhoff, Bernd (Hg.): Die Musik als Geliebte. Zur Selbstobjektfunktion der Musik, Gießen 2003, S. 99.
6 Austin, Diane: When words sing and music speaks. A qualitative study of in depth music therapy with adults, Dissertation, Steinhardt School of Education, University of New York, 2004.
7 Nordoff, Paul/Robbins, Clive: Schöpferische Musiktherapie. Individuelle Behandlung für das behinderte Kind. Praxis der Musiktherapie, Stuttgart 1986.
8 Priestley, Mary: Analytische Musiktherapie, Stuttgart 1983.

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