Tarr, Irmtraud

Resonanz – das Beste wieder finden

Resonanzerfahrungen sind persönlichkeitsprägend

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 22

MusikpädagogInnen sind – anders als in entfremdenden Berufen – als ganze Menschen gefragt und gefordert. Deshalb ist Resonanz mit all ihren Facetten, in der sowohl Lehrkräfte als auch Schüler als antwortende, berührende, mitschwingende Personen erlebt werden, grund­legend. Die Persönlichkeit des Musikpädagogen wird entscheidend geprägt von der Offenheit für Resonanzerfahrungen.

„Nimm ab, wenn du da bist!“ Diese Bitte ist einer der Sätze unserer Zeit. Das Telefon läutet, der Anrufer hat die Vermutung, dass der andere da ist. Aber er rechnet damit, dass er ignoriert wird, vielleicht weil er selbst auch oft nicht antwortet. Man kann heute nicht einfach jemanden anrufen und eine Antwort erwarten. Die Welt ist keine antwortende Welt mehr.
„Resonanz“ (von lat. resonare, „widerhallen“) nennt man dieses Phänomen des Antwortens und Anteilnehmens, das in der Musik als Mitschwingen, Mittönen eines Körpers in der Schwingung eines anderen Körpers bezeichnet wird. Ohne Resonanz, ohne Widerhall, kann kein Musiker existieren. Die Resonanz mit all ihren Facetten, in der die Welt als antwortende, echogebende, berührende, tragende, mitschwingende erlebt wird, ist grundlegend, da wir als Einzelwesen und Vereinzelte nicht überleben können.
Untermauert wird dies von den Ergebnissen der Säuglings- und Kleinkindforschung1 und von modernen Verfahren der Psychotherapie wie der „Integrativen Therapie“,2 die den Menschen als Körper-Seele-Geist-Wesen in einem sozialen Umfeld eingebettet sieht und sich deshalb mit Fragen der zwischenmenschlichen Resonanz („Relationalität“) auseinandersetzt. Sie bietet hier beispielhaft das Konzept der „Affiliation“,3 das vom intrinsischen Bedürfnis des Menschen nach der Nähe zum anderen ausgeht.
So ist Selbstwerdung, die zur Musikerpersönlichkeit führt, niemals eine ich-bezogene, selbstbesessene. Sie entfaltet sich in Verbundenheit und Resonanz von Interaktionen mit der musikalischen Lebenswelt. Von Anfang an erfolgt sie nicht monologisch, sondern im Dialog. Ausgangspunkt ist deshalb heute Resonanzsubjektivität statt des feuerfesten Descartes’schen Imperativs „Cogito ergo sum“. Würde man dem „Cogito“ ein „r“ hinzufügen („Cogitor“), wie Franz Xaver von Baader (1765-1841) nahelegte, so rückt man durch die entstehende Passivform dem Resonanzgedanken näher: „Ich werde gedacht, also bin ich.“ Musikalisch gesprochen: „Jemand denkt an mich, spielt mit mir (oder für mich), also bin ich.“4

Mangel an Resonanz

Immer mehr MusikerInnen und MusikpädagogInnen erfahren in ihrem Tun zu wenig Resonanz. Sie verausgaben sich, ohne dass zurückkommt, was sie so sehnlich wünschen und brauchen. „Ich übe und übe, dennoch gehe ich abends mit schlechtem Gewissen ins Bett“, so die typische Aussage einer Musikstudentin. Das soziale Rasen hat sie infiziert, das biografische Rasten und Besinnen bleibt auf der Strecke. Die Träumer, die Sensiblen, die Dünnhäutigen, die Zweifler, die technisch weniger Begabten fallen unter „ferner liefen“. Schon bei jungen MusikerInnen finden sich immer mehr, deren Üben dazu dient, im Steigerungsspiel mitzuhalten, Zwänge einzuhalten, um wettbewerbs- und konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben. Rund 76 Prozent der Berufsmusiker sollen an Schmerz- und Bewegungsproblemen sowie an psychischen Belastungen leiden.5 Schätzungsweise jeder zweite Musiker leidet unter Lampenfieber.6 Immer häufiger wird bei Musikpädagogen das Burnout-Syndrom diagnos­tiziert, das Modewort für Ausgebranntsein und Depression mit der Aura von Wall Street und Fukushima, das keine klinische Diagnose ist, sondern eher ein Ausdruck für Überforderung und Entfremdung unter der Belastung von steigenden Anforderungen an Motivation, Perfektion und Selbstverausgabung.

1 vgl. Daniel N. Stern: The Interpersonal World of the Infant, New York 1985; Hilarion G. Petzold: „Bemerkungen zur Bedeutung frühkindlicher Gedächtnisentwicklung für die Theorie der Pathogenese und die Praxis regres­sionsorientierter Leib- und Psychotherapie“, in: Gestalt und Integration 1, 1992, S. 125.
2 Integrative Therapie. Zeitschrift für Verfahren Huma­nistischer Psychologie und Pädagogik, begründet von Charlotte Bühler und Hilarion G. Petzold.
3 vgl. Hilarion G. Petzold/Marianne Müller: „Modalitäten der Relationalität – Affiliation, Reaktanz, Übertragung, Beziehung, Bindung – in einer ,klinischen Sozialpsychologie‘ für die Integrative Supervision und Therapie“, in: Hilarion G. Petzold: Integrative Supervision, Meta-Consulting, Organisationsentwicklung. Ein Handbuch für Modelle und Methoden reflexiver Praxis, Wiesbaden 22001.
4 Diese Anregung verdanke ich einem Interview mit Peter Sloterdijk: Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews, Berlin 2013.
5 nach Angabe von Professor Sebastian Kerber, Bad Neustadt (5. Musikermedizinische Tagung in Bad Neustadt 2012).
6 nach Déirdre Mahkorn, Lampenfieber-Ambulanz Bonn 2010.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2013.