© Roger Stöckli

Thielemann, Kristin

Rhythmustraining statt Bubble-Shooter

Impulse für digital angereicherte Musik-Lernzeiten mit AnfängerInnen

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 34

Dreißig Minuten Unterricht pro Woche sind knapp, um SchülerInnen im An­fangsunterricht instrumentales Rüstzeug zu vermitteln und gleichzeitig grund­legende musiktheoretische Fähigkeiten umfassend zu erarbeiten. Inwiefern können Lern-Apps dabei helfen, die Unterrichtszeit zu entlasten, manches leichter zu erlernen und Inhalte zuhause zu vertiefen? Kristin Thielemann gibt einen Einblick in ihren Unterrichtsraum.

Linus ist ein quicklebendiger, achtjähriger Trompetenschüler, der wöchentlich 30 Minuten Einzelunterricht erhält und seit Kurzem im Anfängerorchester unserer Musikschule mitspielt. Zusätzlich nutzt er ein bis zweimal pro Woche einen offenen Musizierraum seiner Schule, um dort Trompete zu üben. Und gelegentlich erhält er von mir anstelle einer Unterrichtsstunde gleich zwei – dann aber gemeinsam mit einem anderen Schüler, der im Gegenzug auch Linus’ Unterricht mitbesucht.
Sie fragen sich vielleicht, warum Linus schon im Anfängerstadium mehrere Musiziertermine pro Woche hat? Ein Achtjähriger, der eine Ganztagsschule besucht, hat möglicherweise abends nicht die Energie oder Lust, unter elterlicher Aufsicht intensiv zu üben. Daher setze ich gerade bei AnfängerInnen seines Alters auf schnelle Fortschritte durch ein breites musikalisches, sozial vernetztes Umfeld, um die Motivation zu stärken. Auf diese Weise entwickeln sich rasch Kompetenzen, die das Musizieren auf einem höheren Niveau ermöglichen.
Obwohl Linus bereits vergleichsweise viel Zeit mit Musizieren verbringt, habe ich darüber hinaus noch einige Unterrichtsinhalte ausgelagert, die er mit Apps oder Webseiten ohne elterliche Hilfe vertiefen kann. Denn schon während der Probestunde erfuhr ich von Linus’ Mutter, dass er nach langen Schultagen gerne auf dem Sofa „chillt“ und auf dem Handy oder Tablet der Eltern zockt. Warum sollte Linus also nicht mit Apps spielen, die musikalische Inhalte vertiefen?

Einstieg in digitale Lernzeiten

Mit den Eltern habe ich einen sechsmonatigen Probelauf für den Trompetenunterricht mit App-Unterstützung vereinbart. Wir verabredeten eine tägliche digitale Musik-Lernzeit von 15 Minuten, die Linus mit dem elterlichen Handy verbringen darf.1
Zunächst wählte ich die Inhalte aus, die Linus mit Apps vertiefen soll: Noten und Rhythmus lesen sowie sicher in einem vorgegebenen Tempo spielen können. Neben einem Music-Speed-Changer,2 den ich ohnehin mit allen meinen SchülerInnen seit Jahren als digitale Audiothek und Begleit-Tool für ihre Play-alongs nutze, entschied ich mich zu Beginn nur für eine weitere App, mit der Linus das Notenlesen und Prima-Vista-Spielen vertiefen kann. Ich möchte junge Menschen keinesfalls mit zu viel Digitalität überfrachten, auch weil die digitale Welt aus Elternperspektive vor allem nach jüngsten Publikationen kritisch gesehen wird.3 Zum anderen will die Bedienung der jeweiligen Digitaltools im Unterricht sorgfältig erarbeitet sein.
Während der Unterrichtszeit halte ich es so, dass das verwendete Digitalgerät auf dem Notenständer Platz findet und die Lernenden die App selbst bedienen. So bekomme ich einen Eindruck davon, ob die Abläufe sitzen oder ob sie noch Unterstützung benötigen.

Music-Speed-Changer als Game

Mit einem Music-Speed-Changer kann ich Begleitmusik in einem von mir gewählten Tempo abspielen lassen. Dieses Tool hat in meinem Unterricht mit AnfängerInnen das klassische Metronom vollständig ersetzt. Statt „nur“ das Tempo zu halten oder systematisch zu steigern, trainieren wir mit einer Begleitmusik, deren Tempo völlig frei einstellbar ist, darüber hinaus die Hör- und Intonationsfähigkeit.
Zusätzlicher Pluspunkt ist, dass Kinder viel leichter bemerken, wenn sie aus dem Takt kommen. Ein vergessener Klick bei einem Metronom bleibt hingegen oft unbemerkt und bedeutungslos. Zudem können Übungsstücke für den Anfangsunterricht (vermutlich nicht nur für Blechblasinstrumente), die speziell für das Training bestimmter Fertigkeiten konstruiert und oft musikalisch wenig gehaltvoll sind, mit einer guten Begleitmusik aufgewertet werden.
Mit dem Music-Speed-Changer steht zu Beginn meist die Tempoänderung unter Einbezug von Gamification-Elementen im Zentrum des Übens: „Versuch doch mal, die Musik fünf Prozent schneller zu stellen. Mal schauen, ob du auch in diesem Tempo schon mitspielen kannst!“ So werden SchülerInnen die eigenen Fortschritte bewusst, gleichzeitig manchmal aber auch die persönlichen Grenzen. Das Wiederholen des immer gleichen Musikstücks hat auf diese Weise stets etwas Neues und Herausforderndes. Oft gebe ich als Hausaufgabe den Auftrag, ein bestimmtes Stück um eine gewisse Prozentzahl im Tempo zu steigern.
Schnell entdecken SchülerInnen dann weitere Optionen von Music-Speed-Changern wie das Loopen oder Wiederholen von Passagen. Auch die Funktion, ein Musikstück in eine andere Tonart zu transponieren, kann als Aufgabe zum Tüfteln genutzt werden. Und wenn die App mit ihren vielen Musikstücken schon einmal in Gebrauch ist, wird daheim häufig auch gleich noch etwas aus dem Repertoire gespielt und ausprobiert, ob das Musikstück nicht noch ein klein wenig schneller geht. SchülerInnen entdecken dabei auch unbekannte Musikstücke in ihrem eigenen Notenmaterial, die sie sich mit Hilfe eines Tempoände­rungstools selbstständig erschließen.

Der Weg zum Notenlesen per App

Das Training des Notenlesens betrachte ich als wichtige Kompetenz zum eigenständigen Erschließen von notierten Kompositionen. Die Möglichkeit, sich selbst etwas beizubringen und ohne fremde Hilfe in Notenausgaben auf Entdeckungsreise zu gehen, kann enorm motivierend sein. Neben den herkömmlichen didaktischen Wegen zum Notenlesen im Unterricht habe ich in Linus’ Unterricht die App Staff Wars Live eingeführt, die es ermöglicht, sehr genau einzustellen, welche Noten abgefragt werden.4
Zunächst setzte ich die App als kleinen, zweiminütigen Höhepunkt gegen Ende einer Unterrichtsstunde ein, da auffällig war, wie konzentriert Linus selbst in den letzten Minuten sein konnte, wenn ein digitales Spiel vor ihm flackerte. Dass ich persönlich darüber betrübt bin, wie konzent­riert selbst müde Kinder häufig wieder bei flackernden Bildschirmen werden, steht auf einem anderen Blatt.
Mit dieser App, die Linus nach wenigen Wochen auch auf sein Tablet laden durfte, konnte der Junge sehr schnell umfassende Kompetenzen im Notenlesen aufbauen. Ein von mir in der App Flashcards5 angelegtes digitales Karteikartenset, das auf das Benennen von Noten abzielt, und auch ein altes Karteikartenspiel mit physischen Kärtchen plus weitere analoge Spiele nutzte er ebenfalls zum Üben. Allerdings war er aufgrund der fehlenden Gamification-Anreize deutlich weniger motiviert als bei Staff Wars Live.

Gratis Rhythmustraining – zehn Minuten täglich

Nachdem ich das Musizieren und Noten­lesen mit vielen Bausteinen gefördert hatte, wollte ich den Fokus auf das Thema Rhythmus lenken. Da der von mir verwendete Music Speed Changer sowie die Notenlese-App kostenpflichtig waren, war es mir wichtig, nun etwas Kostenfreies, aber dennoch qualitativ Hochwertiges einzuführen. Meine Wahl fiel auf den Music Rhythm Trainer,6 der selbst in der Gratisversion werbefrei ist und keine versteckten Fallen enthält, die unabsichtlich zu einem Abo führen könnten. Zehn Minuten täglich lässt sich die App gratis nutzen.
In kleinen Lernschritten können die Schülerinnen und Schüler mit diesem überaus geduldigen Lehrgang hervorragende Rhythmuskompetenz aufbauen: sicheres Lesen und Umsetzen der gängigen Rhythmen sowie fehlerfreies Nachspielen von Gehörtem. Ein unerwarteter Pluspunkt des kostenlosen Angebots war, dass Linus darauf bedacht war, täglich konsequent die Gratiszeit auszunutzen, wodurch er sehr rasch selbstständig Fähigkeiten entwickelte, die er im Unterricht mit herkömmlichen Lehrmitteln in dieser Intensität und Kürze der Zeit kaum hätte ausbilden können.
Die vier Modi der App – Lernen, Üben, Auftritt und Wettkampf – bieten mir als Lehrkraft viele Möglichkeiten für gezielte, abwechslungsreiche Hausaufgaben, die das Kompetenzniveau beim Rhythmuslesen und -spielen deutlich erhöhen. Besonders beliebt bei meinen SchülerInnen ist der Auftrittsmodus, in dem sie zu bekannten Popmusik-Hits vorgegebene Rhythmen auf einem virtuellen Trommelpad in den Schwierigkeitsgraden leicht, mittel und schwer ausführen können. Dabei spielt die App bekannte Hits, die mit selbstgetrommeltem Rhythmus ergänzt werden sollen. Linus hat diese Funktion hin und wieder als Wunschkonzert für seine Eltern genutzt, was der ganzen Familie Freude am Rhythmuslernen ihres Jüngsten bereitete.

Kreativ mit Apps – im Unterricht und daheim

Viele kleinere Projekte, die während eines Schuljahrs immer wieder für die Sichtbarkeit des Lernens7 sorgen, setze ich ebenfalls mit Apps um. Ob es nun um die Produktion eines Klingeltons geht, sodass auf meinem Mobilgerät die Anrufe aller SchülerInnen mit ihren individuell produzierten Sounds klingeln,8 oder ob auf den Handys der SchülerInnen der gesamte Bekanntenkreis mit selbst produzierten Klingeltönen läutet; ob es Splitscreen-Videos sind,9 in denen mehrere Stimmen eines Stücks auf verschiedenen Fenstern eingespielt werden und sogar kollaborative Projekte entstehen können oder ein selbstgemachter digitaler Adventskalender mit der App MyAdvent10 – viele kostenfrei verfügbare digitale Werkzeuge sorgen bei jungen Menschen für hohe Motivation.
Linus hat nun bereits seinen ersten Klingelton produziert und seiner älteren Schwester zum Geburtstag geschenkt. Auch die Hausaufgaben mit der Splitscreen-App gefallen ihm und er findet es spannend, zu den Stücken seiner Trompetenschule auch die zweiten und dritten Stimmen zu erlernen beziehungsweise selbst welche zu erfinden. Das Loopen habe ich ihm bisher noch nicht gezeigt und an meine digitale Lernplattform ist er auch noch nicht angeschlossen. Und dann warten auf ihn noch musikgeschichtliche Inhalte, meist Videos oder Podcastfolgen, die ich mittels QR-Code, den ich mit der App Print Master und einem Labeldrucker erstelle,11 in die Noten der SchülerInnen klebe.
Natürlich wäre es möglich, auch ganz traditionell und ohne digitale Medien einen motivierenden Unterricht zu gestalten. Für mich ist die Digitalisierung im Unterricht jedoch aus zwei Gründen unverzichtbar: Zum einen, um jungen Menschen aufzuzeigen, dass sie ihre Handys für viel mehr als nur zum Shoppen und Spielen nutzen können – es eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten für musikalisch-kreatives Arbeiten in der digitalen Welt. Zum anderen, um Lernerlebnisse und Fortschritte zu ermöglichen, die ohne den Einsatz digitaler Technologien aufgrund von Zeit- oder Ressourcenmangel weniger intensiv ausfallen würden.

1 Viele Musikschulen stellen ihren Lehrkräften Apple-Geräte für ihren Arbeitsalltag zur Verfügung. Daher gehe ich in diesem Beitrag in erster Linie auf Tools für iOS ein. Da es aber auch SchülerInnen gibt, die Android-Mobilgeräte nutzen, versuche ich, auch dafür zumindest einige App-Tipps zu geben, obwohl meiner Meinung nach derzeit die Apple-Welt für uns MusikerInnen viele Vorteile bietet.
2 Sehr gerne nutze ich als Music-Speed-Changer die App Anytune Pro+, die ich sowohl auf Handy, iPad und Computer habe. Anytune Pro+ ist so­wohl für Android als auf für iOS erhältlich. Diese Version ist derzeit einmalig kostenpflichtig. Es gibt aber auch kostenlose (jedoch häufig durch Werbung finanzierte) Alternativen von Music-Speed-Changer-Apps. Auch kann es sich lohnen, das Handling mit Alternativen wie Amazing Slow Downer (Lite) und Music Speed Changer auszuprobieren.
3 siehe beispielsweise den Bestseller Generation Angst von Jonathan Haidt. Ihre fundiert geschriebene Kritik an Jonathan Haidts Aussagen formulieren drei Würzburger Forschende hier: www.hw.uni-wuerzburg.de/aktuelles/news/single/news/generation-angst-thesenpapier (Stand: 18.10.2024).
4 Eine App-Rezension für Staff Wars Live mit Einsatzmöglichkeiten finden Sie in üben & musizieren 1/2023: www.uebenundmusizieren.de/ artikel/meine-app-18 (Stand: 5.11.2024).
5 In der App Flashcards (https://flashcards.world) kann man wie bei einem Karteikastensystem Lernkarten anlegen und anderen zum Lernen zur Verfügung stellen. Ähnlich funktionieren die aus der Schule bekannten Systeme Quizlet, Anki oder kahoot!
6 für iOS unter https://apps.apple.com/de/app/ music-rhythm-trainer/id1319997438 (Stand: 5.11.2024).
7 vgl. hierzu die Ideen des Service Learnings.
8 Auf Apple-Geräten lässt sich dies über die im Lieferumfang kostenfrei enthaltene App Garage Band lösen. Weitere Details zum Thema Klingeltonproduktion in: Thielemann, Kristin: Digital jetzt! Wie Sie Ihren Unterricht medial bereichern, Mainz 2022.
9 Nachdem bei der App Acapella unabsichtlich ein Abo abgeschlossen werden kann, hatten die Lernenden meiner Klasse viel Freude mit der App Mixound, welche aber nicht durchgehend im App-Store verfügbar war. Einmal geladen, funktioniert sie jedoch tadellos. Seit einiger Zeit nutze ich die App AloneQuartet, die mir auch im Handling für AnfängerInnen mit ihren vielen großen und bun­ten Buttons sehr gefällt.
10 für iOS unter https://apps.apple.com/de/app/ myadvent/id1305680680 (Stand: 5.11.2024).
11 siehe auch Thielemann, Kristin: „Druckreife Tipps. Der Mini-Labeldrucker für den Unterricht“, in: üben & musizieren 6/2023, S. 39, www.uebenundmusizieren.de/artikel/druckreife-tipps (Stand: 5.11.2024).

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